Autoritäre Regierungen inszenieren sich als Widerstandskämpfer gegen den Westen

Antiimp à la Putin

Russland und China ­fordern die westlichen Staaten heraus, die ihrerseits vom Kampf der ­Demokratien gegen den Autoritarismus sprechen. Was sind die Ursachen dieser Konflikte und worum geht es bei ihnen? Beginn einer neuen Disko-Reihe.
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»Der Hauptfeind steht im eigenen Land«, schrieb Karl Liebknecht während des Ersten Weltkriegs, ein Satz, der sich tief in das kollektive Gedächtnis der Linken eingrub. Der Impuls der Metropolenlinken, sich der Mobilisierung gegen den äußeren Feind zu verweigern, kommt nicht von ungefähr. Bei der kapitalistischen Weltgesellschaft handelt es sich nun einmal um eine durch und durch imperiale Ordnung, in der Macht und Einfluss höchst ungleich über die Weltregionen verteilt sind. Dementsprechend geben die ­kapitalistischen Kernstaaten den Takt vor, nach dem die Weltmarktperipherie zu tanzen hat, und sie bestimmen in der Regel auch die hegemonialen Deutungsmuster.

Noch der von den USA angeführte Krieg gegen das Regime von Saddam Hussein im Irak 2003 folgte diesem wohlvertrauten Drehbuch. Allerdings markiert er zugleich einen historischen Wendepunkt. Den USA und ihren Verbündeten gelang es zwar, im Handumdrehen die marode irakische Entwicklungsdiktatur militärisch ­niederzuwerfen; dafür geriet die politische Neuordnung zum Fiasko. Das ideologische Sendungsbewusstsein, mit dem der Westen in den neunziger Jahren noch als selbsternannter Weltpolizist in seine »Menschenrechtskriege« zog, ist ihm seither gründlich abhan­dengekommen.

Der Abschied des Westens vom liberal-demokratischen Sendungs­bewusstsein macht die Welt zu keinem besseren, sondern zu einem noch gruseligeren Ort.

Nicht, dass der Westen nicht mehr in der Lage wäre, die Suprematie seiner Wirtschaftsinteressen global durchzusetzen. Auf diesem Terrain fordern die Putins, Lukaschenkos und Erdoğans die USA und die EU-Staaten wohlweislich erst gar nicht heraus. Auch die siegreichen Taliban verwandelten sich nach ihrem Triumph im vergangenen Jahr sofort in Bittsteller und baten unter anderem die deutsche Regierung um humanitäre Hilfe; umso martia­lischer ist ihr Auftreten auf identitätspolitischem Gebiet. Autokraten jeder Couleur werfen sich in die Pose antiimperialistischer Kämpfer und verbitten sich lautstark jede westliche Bevormundung, während sie gleichzeitig versuchen, mit dem Westen ins Geschäft zu kommen.

Wäre der einzige Preis für diese merkwürdige Form von Kooperation und Konfrontation, dass der Westen Prestige verliert, könnte man das Ganze getrost als für emanzipationsorientierte Linke irrelevantes Schmierentheater betrachten. Dummerweise sind die eigentlichen Opfer der Konfronta­tion aber ganz woanders zu suchen. Die autoritären Machthaber spielen über Bande. Sie suchen den Konflikt mit dem Westen, um die Kontrolle über die ­eigene Bevölkerung zu sichern. Über die Auseinandersetzung mit dem Westen wollen sich die Regime der »Diebe und Gauner«, wie Aleksej Nawalnyj und andere Oppositionelle die russische Regierungspartei Einiges Russland bezeichnen, in Russland und andernorts die Legitimität zurückholen, die sie in der von Korruption und sozialem Elend zermürbten Gesellschaft längst verloren haben.

Man will die Beziehungen auf folgende Geschäftsgrundlage stellen: EU und USA sollen auf das Menschenrechts- und Demokratiegesäusel verzichten und den autoritären Regimen ihre Macht und die freie Verfügungsmacht über die eigene Bevölkerung lassen. Dann ist der friedliche Interessenausgleich kein Problem mehr.

Im Fall der ehemaligen Großmacht Russland wird die Sache dadurch verkompliziert, dass es dem Putin-Regime nicht genügt, das eigene Land im Würgegriff zu behalten. Um der russischen Bevölkerung einzubläuen, Widerstand sei zwecklos, verfolgt es für das Gebiet der ehemaligen Sowjetunion eine Art Zero-Demokratie-Strategie. Aus Angst vor Ansteckung hat sich Putin-Russland in einen Hort präventiver Konterrevolution verwandelt. Ob Kirgisien, Belarus oder zuletzt Kasachstan, sobald im ehemaligen sowjetischen Machtbereich eine Kleptokratie ins Wanken gerät, naht die Rettung in Gestalt russischer politischer Unterstützung oder gar russischen Militärs. Die baltischen Staaten lassen sich schwerlich wieder zurückholen und auch die Ukraine hat sich mit der »Orangenen Revolution« dem russischem Zugriff entzogen. Umso wichtiger ist es, sie wenigstens zu destabilisieren. Ohne die Absetzbewegung wäre die Krim nie ­annektiert worden und gäbe es heutzutage keinen russischen Truppenaufmarsch.

Teile der bürgerlichen Presse schreiben angesichts des Ukraine-Konflikts von neosowjetischem Imperialismus. Diese Etikettierung verschleiert mehr, als sie erklärt, schon weil die Paradoxie nicht deutlich wird, die das Verhältnis Russlands zu seinen Nachbarn kennzeichnet. Die ausgeprägte Aggressivität der Politik der russischen Machthaber entspringt der Schwäche des Regimes und ist Ausdruck der Zerrüttung der russischen Gesellschaft. Außerdem legt die Verwendung des Begriffs Imperialismus nahe, es ginge der russischen Führung darum, zur Stärkung des eigenen ökonomischen Potentials andere Länder und deren Ressourcen unter direkte Kontrolle zu bekommen. In Wirklichkeit sind die Stützung des von westlichen Sanktionen betroffenen belarussischen Regimes und die Einverleibung der Krim Zuschussgeschäfte ohne Aussicht auf Amortisation. Sollte die russische Führung tatsächlich ­versuchen, die Ukraine zu annektieren, wäre das auch ohne westliche Sanktionen für die Besatzungsmacht ruinös.

Auch Teile der Linken sprechen gern von Imperialismus. Allerdings meinen sie damit meist nicht Russland, sondern den Westen. Die Osterweiterung von EU und Nato soll das Ergebnis ­einer planmäßigen Landnahme sein. Diese Deutung projiziert die Regeln, nach denen die Weltpolitik im späten 19. Jahrhundert funktionierte, ins frühe 21. Jahrhundert. Selbstverständlich gibt es in den Nato-Staaten und in der EU Kreise, die sich für die Osterweiterung einsetzten, selbstverständlich gibt es Einzelkapitale, die von ihr profitierten. Die treibenden Kräfte waren aber keineswegs in den westlichen Metropolenländern zu suchen, sondern in den peripheren Staaten.

In den baltischen Ländern und der Ukraine galt und gilt vielen nach dem Kollaps des Realsozialismus die Juniorpartnerschaft mit den USA und den EU-Kernstaaten als einzige Perspektive. Sie drängt es in die entsprechenden Institutionen. In den westlichen Kernstaaten herrschte darüber keineswegs einhellige Begeisterung. Vor allem in der EU betrachteten die alten Mitglieder die neuen eher als potentielle Be­lastung. Demokratisches Sendungsbewusstsein und die Befürchtung, der Zuwachs könnte die Clubkasse allzu sehr strapazieren und die Funktionsfähigkeit der EU gefährden, hielten sich die Waage.

Was die Nato angeht, so hatte diese mit dem Ende der Blockkonfrontation ihren Existenzgrund verloren. Sie hätte sich deshalb Anfang der neunziger Jahre entweder auflösen oder Russland die Aufnahme anbieten sollen. Solange sie als genuin westliches Militärbündnis weiterexistierte, war es für die Westbindung suchenden Länder nur logisch, in die Nato zu drängen. Wenn man in diesen Zusammenhang von Imperialismus reden will, dann muss man auch dessen paradoxe Form betonen. Er entsprang weniger dem Drang der Altmitglieder nach Eroberung und Ausdehnung als vielmehr dem Wunsch der »Neuen« nach Aufnahme in den Club der Auserwählten. Selbst die USA haben ihren Traum von einer unipolaren Welt inzwischen begraben. Sie wollen sich auf ihren Hauptgegner konzentrieren, und der sitzt nicht in Moskau, sondern in Peking.

Die russische Propaganda erklärt die Westorientierung ehemaliger realsozialistischer Staaten zum Ergebnis einer systematischen »Einkreisungspolitik«. Auf diese Weise kann sie an die nationale Identität appellieren und davon ablenken, wie sehr ein großrussischer Mafia-Kapitalismus à la Putin weite Kreise der Bevölkerung in den Nachfolgestaaten der Sowjetunion ­abschreckt. Allerdings dokumentiert die russische Regierung mit ihrem aggressiven Vorgehen, dass sie dem Westen das Gegenteil dessen unterstellt, was sie ihm vorwirft. Nur weil das Putin-Regime genau weiß, wie begrenzt das Interesse des Westens an seiner östlichen Peripherie ist, sucht es die Konfrontation. Ob das Kalkül aufgeht? An der deutschen Politik wird es jedenfalls kaum scheitern. Hierzulande existiert ein breites parteiübergreifendes informelles Bündnis von Putin-Verstehern.

Eine radikale Linke, die sich in diese großen Koalition einreiht, um dem westlichen Menschenrechtskriegertum Widerstand entgegenzusetzen, ist überflüssig. Die emanzipativen Kräfte stehen vor einer ganz anderen Herausforderung. Der Universalismus der westlichen Werte, der sich schon immer selbst dementierte, ist ausrangiert. Ob man sich im Westen mit Putin ­arrangieren oder sein Konfrontationsspiel mitspielen will, beide Lager eint die realpolitische Orientierung.

Der Abschied vom liberal-demokratischen Sendungsbewusstsein macht die Welt aber keineswegs zu einem besseren, sondern zu einem noch gruseligeren Ort. Nach dem Zusammenbruch des Realsozialismus lautete die liberale Mär, Demokratie und Marktwirtschaft würden den Mitgliedern der Weltgesellschaft den Weg zu Freiheit und Wohlstand eröffnen. Diese Illusion hat sich jämmerlich blamiert. Das darf aber nicht heißen, dass der Anspruch aller auf Selbstbestimmung und Teilhabe am gesellschaftlichen Reichtum auf den Müllhaufen der Geschichte landet.