Der »Islamische Staat« hat sich zurück­gemeldet

Angriff der Winteradler und Jihadisten

Koordinierte Attacken in Syrien und im Irak zeigen, dass die jihadistische Organisation nicht zerschlagen wurde. Derweil intensiviert die Türkei ihre Angriffe in den Regionen.

Statt Nahrungsmitteln kamen bewaffnete Jihadisten. In der Nacht vom 20. auf den 21. Januar ließ ein Gefängnismitarbeiter, dem die kurdisch dominierten Syrischen Demokratischen Kräfte (SDF) bisher vertraut hatten, ein vom »Islamischen Staat« (IS) präpariertes Fahrzeug in das al-Sinaa-­Gefängnis im Süden der Stadt Hasaka passieren. Der Mitarbeiter war für die Lebensmittelversorgung für die etwa 4 000 dort gefangen gehaltenen Kämpfer der Terrororganisation IS verantwortlich. Im Auto befanden sich mehrere bewaffnete Kämpfer und jede Menge Sprengstoff. Nachdem die ­Jihadisten das Auto verlassen hatten, wurde dieses zur ­Detonation gebracht, um den Eingang zum Gefängnis aufzusprengen.

Im selben Augenblick begannen inhaftierte IS-Kämpfer im Inneren des Gefängnisses einen Aufstand. Die Aufständischen filmten sich mit eingeschmuggelten Handys, wie sie die Kontrolle des Gefängnisses übernahmen, und schickten die Aufnahmen an die Nachrichtenagenturen des IS, die ­diese sofort in alle Welt verbreiteten.

Die präzise koordinierte Attacke des IS in Hasaka scheiterte zwar, stellte am Ende aber einen Propaganda­erfolg für die Terrororganisation dar.

Parallel dazu griff der IS im Irak einen Armeeposten an der Hauptverbindungsstraße zwischen Bagdad und Kirkuk in der Provinz Diyala an und tötete in der Nacht auf den 21. Januar elf irakische Soldaten. Der gesamte Armeeposten an der stark gesicherten Hauptverkehrsroute wurde dem Erdboden gleichgemacht. Das klare Signal an die Weltöffentlichkeit: Der IS sei in der Lage, koordiniert und geplant vorzugehen, und wieder in der Offensive.

Bis zum Morgen des 21. Januar hatte der IS auch jenen Bereich des Gefängnisses übernommen, in dem über 800 Kinder und Jugendliche festgehalten wurden, die in der Kinder- und ­Jugendorganisation des IS, bei den »Löwenjungen des Kalifats« (Ashbal al-Khilafah), indoktriniert und trainiert worden waren. Diese Zehn- bis 15jährigen, die als Kindersoldaten zum Einsatz kamen, gelten zwar als hochgradig ideologisiert und gefährlich, wurden als Minderjährige von den SDF aber besser behandelt als die erwachsenen Kriegsgefangenen.

In den folgenden Tagen wurde nicht nur um das Gefängnis, sondern auch in den angrenzenden, überwiegend arabisch besiedelten Stadtvierteln Ghuwayran und al-Zouhour gekämpft. Zivilistinnen und Zivilisten, die nicht rechtzeitig aus der Kampfzone fliehen konnten, mussten sich über eine Woche in ihren Häusern verschanzen. Wenige Tage zuvor hatte der schlimmste Schneesturm seit Jahren getobt, nun ging vielen von ihnen, während sie zu Hause festsaßen, das Heizöl aus. Auch die Versorgung mit Lebensmitteln brach teilweise zusammen. Die Kämpfe in den Stadtvierteln dauerten bis in die frühen Morgenstunden des 25. Januar an, danach konzentrierten sich die Kämpfe auf das Gefängnis selbst.

UN-Angaben zufolge flohen während der Kämpfe rund 45 000 Menschen – rund ein Viertel der Stadtbevölkerung – aus den umkämpften Vierteln in andere Teile der Stadt. Von den Geflohenen habe den UN zufolge etwa ein Drittel Zuflucht in dem kleinen, von der syrischen Regierung kontrollierten Stadtgebiet gesucht. Letztere Angabe ist allerdings mit Vorsicht zu genießen. Die UN verwenden für ihre Angaben meist Regierungsquellen und es kann gut sein, dass die syrische Regierung hier die Zahlen stark übertrieben darstellt. De facto wird in Hasaka nur ein sehr kleines Gebiet von der syrischen Regierung kontrolliert, das nur wenige Amtsgebäude umfasst, darunter ein Gefängnis, das Einwanderungsbüro, eine Polizeistation, das lokale Armeekommando und das Rathaus der Stadtverwaltung der syrischen Regierung.

Nach der seit Beginn des syrischen Bürgerkriegs dritten Schlacht um ­Hasaka im August 2016 hatte die Regierungsarmee die Kontrolle über den Großteil des Stadtgebiets verloren. Die siegreichen SDF hatten dem Regime allerdings beim von Russland vermittelten Waffenstillstand vom 23. August 2016 noch die Kontrolle über diese Amtsgebäude und leicht bewaffnete Polizeieinheiten zugestanden, um der Bevölkerung notwendige Behördengänge zu ermöglichen und Bereitschaft für zukünftige Verhandlungen mit dem Regime zu signalisieren. Seither waren alle Wohnviertel der Stadt unter Kontrolle der SDF, wobei insbesondere in den mehrheitlich christlichen Stadtvierteln im westlichen Stadtzentrum die Einheiten des christlichen Assyrischen Militärrats das Sagen hatten.

Im Kampf um das Gefängnis selbst, bei dem die SDF schließlich von US-amerikanischen und britischen Koalitionstruppen unterstützt wurden, stellte sich als Hauptproblem heraus, dass die IS-Kämpfer die Kinder und ­Jugendlichen der »Löwenjungen des Kalifats« als Schutzschilde benutzten. Die Herausforderung für die SDF und die US-amerikanischen Spezialeinheiten war daher, bei den Kämpfen möglichst wenige Kinder und Jugendliche zu töten, und so dauerte es bis in die frühen Morgenstunden des 31. Januar, bis die SDF die letzten Kämpfer des IS im Gefängnis selbst töten oder zur Aufgabe zwingen konnten.

Wie vielen IS-Kämpfern insgesamt die Flucht gelungen ist, ist bislang ­unklar. Hasaka ist weiterhin abgeriegelt und wird seit Tagen systematisch durchkämmt, um ein Entkommen sich versteckt haltender Jihadisten zu verhindern. Wer die bisher veröffentlichten Zahlen von gefangengenommenen und getöteten IS-Kämpfern mit den ursprünglichen Angaben über die Zahl der Inhaftierten vergleicht, erhält aber den Eindruck, dass Hunderte ­Jihadisten entkommen sein müssen. Etwas präziser sind die Angaben über die Toten. Nach Angaben der SDF selbst wurden 40 SDF-Kämpferinnen und -kämpfer, 77 Gefängnismitarbeiter und 374 IS-Kämpfer getötet.

Die präzise koordinierte Attacke des IS scheiterte zwar, stellte aber – unabhängig von der konkreten Zahl an entkommenen Jihadisten – am Ende einen Propagandaerfolg für die Terrororganisation dar. Seit ihrer bislang letzten Gebietseroberung 2019 ist dem IS kein solcher Großangriff mehr gelungen. Dass parallel zu den Angriffen des IS auch die Türkei ihre Angriffe auf die SDF verstärkten, halten viele Kurdinnen und Kurden ebenso wenig für einen Zufall wie die Tatsache, dass sich seit der Niederlage des IS in Hasaka türkische Luftangriffe sowohl in Nordostsyrien als auch in den Regionen Sinjar und Makhmur im Irak häufen.

Als »Operation Winteradler« bezeichnet die türkische Regierung die Luftangriffe gegen Bündnispartner der Arbeiterpartei Kurdistans (PKK), die seit der Nacht vom 31. Januar auf den 1. Fe­bruar im Irak und in Syrien geflogen werden.

Die USA wiederum schlugen gegen den IS zurück. So konnte ein US-Spe­zialkommando den Nachfolger Abu Bakr al-Baghdadis an der Spitze des IS, Abu Ibrahim al-Qurashi, in seinem Versteck in Syrien aufspüren. Der 1976 im irakischen Tal Afar geborene Turkmene, der den IS wohl noch näher an die türkische Regierung gerückt hat als sein Vorgänger, war am 31. Oktober 2019 nach dem Tod al-Baghdadis zum neuen »Kalifen« des IS ernannt worden. Die US-Kräfte griffen sein Versteck bei der nordsyrischen Kleinstadt Atmeh in den Morgenstunden des 3. Februar an, worauf er sich nach einem kurzen Gefecht selbst in die Luft sprengte. Nach US-Angaben kamen dabei auch Familienmitglieder al-Qurashis ums Leben. Die Syrische Beobachtungsstelle für Menschenrechte sprach von rund 13 getöteten Zivilistinnen und Zivi­listen.

Atmeh befindet sich unmittelbar an der Grenze zur Türkei, südlich des bis zur türkischen Invasion von 2018 kurdisch besiedelten Afrin. Die Ortschaft, bei der auch zwei große Lager für Binnenflüchtlinge liegen, befindet sich direkt an der Grenze des Einflussbereichs der jihadistischen Miliz Hay’at Tahrir al-Sham, der Nachfolgeorganisation der al-Nusra-Front (Jabhat al-Nusra), die bis Juli 2016 dem Netzwerk von al-Qaida angehörte, und der pro­türkischen Milizen, die gemeinsam mit der türkischen Armee Afrin besetzt halten.

Wie sein Vorgänger wurde also auch der zweite »Kalif« des IS wenige Kilometer von der türkischen Grenze im Einflussbereich der protürkischen Milizen getötet. Das Verhältnis des Nato-Mitglieds Türkei zum IS wirft damit erneut Fragen auf, die allerdings in der westlichen Öffentlichkeit kaum gestellt werden – schon gar nicht vor dem Hintergrund eines drohenden Kriegs in der Ukraine. Die Türkei hat sich in diesem Konflikt als Vermittler ins Spiel gebracht, liefert ihrerseits allerdings Drohnen an die Ukraine.