In Russland gibt die Bevölkerung Milliarden Rubel für angebliche Anti-Covid-­Medikamente aus

Mit Risiken und Nebenwirkungen

Der Markt für antivirale Medikamente, die vom russischen Gesundheitsministerium empfohlen wurden, boomt. Doch klinische Studien konnten keine entscheidende Wirksamkeit gegen Covid-19 feststellen.

Über 64 Milliarden Rubel (723 Millionen Euro) haben Menschen in Russland im vergangenen Jahr für Medikamente ausgegeben, die angeblich gegen Covid-19 wirken. Dies berichtete die Nachrichtenagentur RBC am 18. Januar, wobei sie sich auf Angaben des Zentrums zur Entwicklung aussichtsreicher Technologien (CRPT) berief, das mit dem System »Chestny Znak« (»ehrliches Zeichen«) für die Produktcode-Kennzeichnung von Arzneimitteln in Russland verantwortlich ist.

Die Regionen, in denen die Bürgerinnen und Bürger am meisten für ange­bliche Anti-Covid-19-Medikamente ausgegeben haben, sind demnach Moskau und der Moskauer Oblast mit rund fünf Milliarden Rubel, gefolgt von südrussischen Krasnodar mit drei Milliarden. Insgesamt wanderten 144 Millionen Packungen solcher Medikamente über die Theke. Am größten ist die Nachfrage nach Umifenovir, in Russland unter dem Handelsnamen Arbidol erhältlich, für das im vergangenen Jahr 16,8 Milliarden Rubel (umgerechnet knapp 20 Millionen Euro) ausgegeben wurden, gefolgt von »Immunomodulator Interferon alfa-2b« mit 7,2 Milliarden Rubel, Medikamente mit dem Wirkstoff Favi­piravir beziehungsweise Avifavir mit 2,9 Milliarden Rubel, für die im Mai 2020 in Russland eine Notfallzulassung erlassen wurde, sowie weitere Medikamente, die seit längerem vor allem gegen Influenza im Einsatz sind.

Am größten ist die Nachfrage nach Umifenovir, in Russland unter dem Handelsnamen Arbidol erhältlich, für das im vergangenen Jahr 16,8 Milliarden Rubel (umgerechnet fast 20 Millionen Euro) ausgegeben wurden.

Bei Preisen bis zu 12 000 Rubel (137 Euro), etwa für Areplevir (Favipiravir, 200 mg, 40 Tabletten), was fast dem monatlichen Mindestlohn entspricht, sind die gefragten Medikamente nicht gerade günstig. Bedenklich ist jedoch vor allem, dass die Wirksamkeit von Präparaten mit den Wirkstoffen Umifenovir oder Favipiravir gegen Covid-19 sich nicht bestätigen ließ. So kam etwa eine chinesische Forschergruppe in einer Studie von 2020 zu dem Schluss, dass eine Behandlung von Covid-19-Patienten mit Umifenovir keinen Vorteil zeigte. In der Pilotphase einer klinischen Studie eines russischen Teams von 2020 zum Einsatz des Grippemedikaments Avifavir bei Patienten mit moderater Covid-19-Erkrankung kam zumindest heraus, dass die Virenlast im Vergleich zur Kontrollgruppe schneller abnahm. Eine Metaanalyse von neun Studien vom Februar 2021 ergab jedoch, dass Favipiravir die Mortalität von leicht bis mittelschwer Erkrankten nicht senken kann.

Zwar sind weltweit bereits mehrere Medikamente gegen Covid-19 zugelassen, die Mittel, die in russischen Apotheken rezeptfrei verkauft werden, ha­ben jedoch meist keinen klinischen Wirksamkeitsnachweis gegen Covid-19. Vom russischen Gesundheitsministe­rium wurden die Medikamente, die derzeit reißenden Absatz finden, jedoch ohne weiteres gegen Covid-19 empfohlen, wie die staatliche Nachrichtenagentur Tass am 27. Januar 2021 berichtete.

Die Erfolgsgeschichte des in den sechziger Jahren zur Sowjetzeit entwickelten und 1974 zugelassenen Mittels Arbidol begann Ende der nuller Jahre. Tatjana Golikowa, seit Mai 2018 stellvertretende Ministerpräsidentin für Bildung, Gesundheit und Sozialpolitik, bekleidete von 2007 bis 2012 das Amt der ­Gesundheitsministerin. Sie genießt seitdem den zweifelhaften Ruf, die wichtigste »inoffizielle Lobbyistin« – bei ihrem Amt ein Euphemismus für Korrumpierbarkeit – des Pharmaunternehmens Pharmstandard zu sein, dessen Tochterunternehmen OTCPharm (Otisi­farm) Arbidol herstellt. Seitdem haftet der promovierten Ökonomin der Spitzname »Madam Arbidol« an. In ihre Amtszeit als Gesundheitsministerin fiel die Schweinegrippeepidemie 2009 bis 2010; das Grippemedikament Arbidol wurde damals in der Liste der »lebensnotwendigen Medikamente« aufgenommen. Kritik der Russischen Akademie der medizinischen Wissenschaften (RAMN) daran blieb unbeachtet. Der Mitbesitzer von Pharmstandard, der Milliardär Wiktor Charitonin, dessen Name seit Januar 2018 im CAATSA-Report steht, der Sanktionsliste des US-Finanzministeriums gegen führende Mitglieder der russischen Regierung und Oligarchen, galt als eng mit der Ministerin verbandelt. Die Produktions- und Verkaufszahlen schossen in die Höhe, Arbidol ist seit Jahren eines der meistverkauften Medikamente in Russland.

2020 belangte die russischen Wettbewerbsbehörde FAS den Hersteller Otisi­farm dennoch für falsche Angaben in der Produktbewerbung, in der es hieß, Arbidol sei »sogar gegen das Coronavirus wirksam«. Doch dessen Ruf und Absatz als Anti-Covid-19-Mittel tat das keinen Abbruch. Schon in den ersten Monaten von 2020 stiegen die Verkaufszahlen um 300 Prozent im Vergleich zum Vorjahreszeitraum. Im Januar empfahl die Chefärztin für Infektionskrankheiten des Moskauer Gesundheitsamts, Swetlana Smetanina, auch gegen die Omikron-Variante mehrere Mittel, die »zusätzlich« eingenommen werden könnten, darunter Arbidol, und warnte zugleich vor dem unkontrollierten Einsatz von Antibiotika.

Angesichts der sehr verbreiteten Impfablehnung in Russland – nicht einmal die Hälfte der Bevölkerung ist doppelt geimpft – dürfte die Bewerbung und der Verkauf von antiviralen Präparaten, deren Wirksamkeit gegen Covid-19 nicht klinisch nachgewiesen ist, die Lage sogar noch verschlimmern, da dies die Impfbereitschaft weiter senken könnte.

Ändern könnte sich das, wenn Fälle wie der von Lidija Medwedjewa aus der Region Astrachan mehr Aufmerksamkeit bekommen. Das dortige Landgericht entschied im Oktober 2021, ihr stünden eine Million Rubel Entschädigung für den Tod ihres Ehemanns zu. Die ­Covid-19-Erkrankung des 60jährigen war im Krankenhaus erst als Grippe ­diagnostiziert und dann mit Arbidol erfolglos behandelt worden. Er verstarb.