Inseln der Wildnis schaffen
Vom sechsten großen Massenaussterben in der Geschichte der Erde reden bereits seit einigen Jahren viele Wissenschaftler. Sie beschreiben damit das Ausmaß der menschengemachten Zerstörung biologischer Vielfalt: Die Umwandlung von Ökosystemen in industrielle Agrarflächen oder urbane Landschaften führt dazu, dass weltweit in rasanter Geschwindigkeit die Biodiversität zurückgeht, Landschaften monotoner werden und ganze Arten aussterben.
Gleichzeitig hat das Thema »Wildnis« Hochkonjunktur. Radioreportagen und Fernsehserien laufen unter dem Titel »Wildes Deutschland«, Regierungsbroschüren werben mit Titeln wie »Wo Natur sich selbst gehört« und gut verkaufte Sachbücher handeln vom »geheimen Leben der Bäume« oder fordern: »Wildnis wagen!«
Das Projekt am Stettiner Haff gehört zu einem Netzwerk von neun Rewilding-Vorhaben in Europa, vom schwedischen Lappland bis zu den südlichen Karpaten in Rumänien.
16 Nationalparks hat Deutschland inzwischen – vom Nationalpark Bayerischer Wald über die Parks im Schwarzwald, Hunsrück und Harz bis hinauf zum Wattenmeer und zur vorpommerschen Boddenlandschaft. Sie wollen, wie es in Flyern und Videos heißt, »die Faszination Wildnis hautnah erlebbar machen« und dem Motto folgen: »Natur Natur sein lassen«. Versprochen wird eine »ungestörte und großflächige Naturentwicklung«.
Doch streng genommen ist ein Großteil der Nationalparks keine Wildnis. Als Wildnis gelten nach Definition der internationalen Natur- und Umweltorganisation International Union for Conservation of Nature (IUCN) »große, unveränderte oder leicht veränderte Gebiete«, die »ihren natürlichen Charakter und Einfluss beibehalten, ohne dauerhafte oder signifikante menschliche Besiedlung«. Die letzten Wildnisgebiete in Mitteleuropa sind voneinander isoliert und oft zu klein, um wirklich eigenständige Biotope zu bilden. In europäischen Wäldern dominieren weiterhin Fichtenmonokulturen. Bis daraus die Mischwälder wieder entstehen können, wie es sie vorher einmal gab, wird es einige Jahrzehnte dauern. Von echter Wildnis kann auch angesichts der vielen Straßen in den meisten Nationalparks nicht die Rede sein. »Selbst in den natürlichen Kernzonen gibt es breite, LKW-fähige Forststraßen«, kritisierte schon vor Jahren Gerhard Trommer, langjähriger Professor für Umweltbildung in Frankfurt und einer der besten deutschen Wildniskenner, im Gespräch mit der Taz. »Das wichtigste Kriterium für ein Wildnisgebiet ist die Abwesenheit von Straßen. Wildnisgebiete müssen unzerschnitten sein, und der Mensch muss sich raushalten.«
Eine wilde Fläche muss mindestens 1 000 Hektar groß sein, also mindestens so groß wie 1 000 große Fußballfelder. Diese Zahl wird auch von der IUCN zur Kategorisierung von Wildnisflächen verwendet. Die IUCN, deren Mitglieder zahlreiche staatliche Ministerien und Behörden, Nichtregierungsorganisationen und Repräsentanten indigener Bevölkerungsgruppen sind, legt nicht nur internationale Schutzstandards fest, sie erstellt auch die sogenannte Rote Liste gefährdeter Arten und hat einen Beobachterstatus bei der UN-Vollversammlung.
Seit einigen Jahren ist ein neuer Begriff geläufig geworden: Rewilding. Er kommt aus den USA und bezeichnete ursprünglich die Wiederansiedlung von Wildtieren wie Grizzlybären, Bisons und Wölfen in Gebieten, in denen sie ausgerottet waren. Die Vereinten Nationen haben das Jahrzehnt bis 2030 zur Dekade für die Wiederherstellung von Ökosystemen erklärt. Die Welt müsse eine Fläche von der Größe Chinas renaturieren (to rewild) und wiederherstellen, fordern die UN. Gebiete, die heute Ackerland, Forste und Siedlungen beheimaten, müssen ebenso wie Weiden, Savannen und Meeresökosysteme in einen von Menschen unbeeinflussten Zustand versetzt werden. Das gehe nur, wenn die Regierungen sich verpflichten, bis 2030 mindestens eine Milliarde Hektar Land wiederherzustellen, und ein ähnliches Versprechen für die Ozeane abgeben, so der Bericht des UN-Umweltprogramms (UNEP) und der UN-Ernährungs- und Landwirtschaftsorganisation (FAO) zum Beginn des Jahrzehnts.
Der Umwelt- und Naturschutz in Europa fördert vor allem das sogenannte passive Rewilding. Die Wildnis soll von selbst kommen. So etwa im Oder-Delta, einem europäischen Rewilding-Projekt riesigen Ausmaßes. Das Stettiner Haff (polnisch: Zalew Szczeciński), in das die Oder an der deutsch-polnischen Grenze mündet, ist ungefähr so groß wie das Ruhrgebiet, es umfasst rund 70 000 Hektar Wasserfläche und viele große Waldkomplexe drumherum, die noch relativ unzerschnitten sind. Ganz ohne Zaun und offiziellen Schutzstatus soll hier die Wildnis zurückkehren. Nach Auffassung der Projektbetreiber gehören nicht nur Elche, Wölfe, Biber, Störe und Wisente in diese Landschaft, sondern auch wilde Dünen, Buchenwälder auf Steilküsten, Flussauen, Moore, trockene Heidelandschaften mit Blühwiesen.
Das Projekt am Stettiner Haff gehört zu einem Netzwerk von neun Vorhaben in Europa, vom schwedischen Lappland bis zu den südlichen Karpaten in Rumänien. Gefördert werden die Projekte von der Organisation »Rewilding Europe«, die ihren Sitz in Nijmegen hat. Sie wurde 2011 von vier Naturschutz-Organisationen ins Leben gerufen und hat sich zum Ziel gesetzt, bis 2022 rund eine Million Hektar Land neu zu gestalten und so Wildnisgebiete zu schaffen. Dichte Mischwälder sollen dazu führen, dass der Waldboden wieder Wasser speichern kann. Kleine und mittlere Flüsse, über Jahrhunderte immer mehr reguliert, sollen durch Renaturierungsmaßnahmen in ihren natürlichen Lauf zurückkehren und bedrohten Arten Schutz bieten.
Die Rewilding-Initiative fügt sich in die Artenschutzpolitik der EU ein. Die Europäische Union hat in ihrer Biodiversitätsstrategie das Ziel ausgegeben, bis 2030 zehn Prozent ihrer Landfläche und der Meeresgebiete unter strengen Schutz zu stellen. Auch ein neues Naturwiederherstellungsgesetz will die EU noch in diesem Jahr vorlegen. Es soll rechtsverbindliche Ziele beinhalten, um bis 2050 renaturierte Ökosysteme zu schaffen, auch mit Blick auf ihr Potential zur Speicherung von CO2 sowie der Eindämmung der Auswirkungen von Naturkatastrophen wie Überflutungen.
In Deutschland hatte die vorige Bundesregierung angekündigt, bis 2020 auf zwei Prozent der Landesfläche Wildnis entstehen lassen. Allerdings liegt das Ziel in weiter Ferne – nur 0,6 Prozent galten Ende 2020 dem WWF zufolge als »wild«. Nun fällt das Wort »Wildnis« zwar auch im Koalitionsvertrag der neuen Regierung, aber nicht als Teil eines konkreten politischen Vorhabens. Um Druck zu machen, haben die wichtigsten deutschen Natur- und Umweltschutzorganisationen Ende 2020 eine »Agenda für Wildnis« ausgerufen. »Die Bundesregierung muss entsprechend der 2021 beginnenden UN-Dekade zur Wiederherstellung von Ökosystemen und der EU-Biodiversitätsstrategie die großflächige Wiederherstellung der Natur ganz oben auf ihre Klima- und Biodiversitätsagenda setzen«, forderte damals Ulrich Stöcker, der Leiter für Naturschutz und Biodiversität der Deutschen Umwelthilfe. Die Umwelt- und Naturschutzverbände wollen bestehende Wildnisgebiete erweitern und miteinander verbinden. Mindestens ein Prozent des Budgets für den Bau und Erhalt von Bundesfernstraßenbau solle in die (Wieder-)Vernetzung von Kernflächen des Naturschutzes, insbesondere von Wildnisgebieten investiert, werden. Finanzielle Anreize wie Vergünstigungen bei der Grundsteuer, den Grundabgaben oder bei der Erbschaftssteuer sollen private Flächeneigentümer motivieren, geeignete Flächen ihres Grundbesitzes für die Wildnisentwicklung zur Verfügung zu stellen. Einen Beitrag dazu leistet bereits seit einigen Jahren der sogenannte Wildnisfonds der Bundesregierung. Mit diesem Förderprogramm unterstützt die Regierung den Kauf von Flächen, auf denen Wildnis entstehen soll. Mehr Wildnis zuzulassen, das wird für viele Bewohner in oder bei den Rewilding-Gebieten bedeuten, sich auf neue, schwerer zugängliche Landschaften einzustellen und sich in bestimmten Bereichen einzuschränken. Weniger industrielle Landwirtschaft, weniger Infrastrukturausbau werden der Preis für mehr Wildnis sein. Dem werden vermutlich oft die Ordnungsliebe und Behäbigkeit in der deutschen Provinz im Wege stehen, wie auch die Interessen einiger Anwohner. Zudem weckt die Wiederansiedlung großer Wildtiere auch irrationale Ängste, wie die Debatten über Wölfe zeigen.