Small Talk mit Marie Straub über den sogenannten Neukölln-Komplex

»Dass wir alles selbst aufdecken müssen, ist sehr frustrierend«

Seit 2016 gibt es im Berliner Bezirk Neukölln immer wieder rechte Angriffe auf Migrantinnen und Migranten sowie Linke. Der rot-grün-rote Senat plant nun einen parlamentarischen Untersuchungs­ausschuss zu den Übergriffen. In der vergangenen Woche wandten sich verschiedene Initiativen mit einem gemeinsamen offenen Brief an die Abgeordneten der Regierungsparteien, in dem sie unter anderem Forderungen stellen. Zu den Initiativen gehört auch die Gruppe Neukölln Watch, die in einer Chronik auf ihrer Website www.nkwatch.info die Naziangriffe dokumentiert. Die »Jungle World« sprach mit ­Marie Straub von Neukölln Watch über die Forderungen und den ­sogenannten Neukölln-Komplex.
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Was sind Ihre Forderungen?

Die erste Forderung ist die Öffentlichkeit der Sitzungen. Wir wollen uns als Initiativen mit unserem Wissen in den Untersuchungsausschuss einbringen und so Verantwortung abgeben. Aber nicht komplett, denn eine staatliche Aufklärung allein kann nicht funktionieren. Deshalb setzen wir uns in dem offenen Brief auch dafür ein, bereits in den Untersuchungsauftrag mit eingebunden zu werden. Denn was der Untersuchungsausschuss untersucht, wird zu Beginn im sogenannten Untersuchungsauftrag festgelegt. Da später noch einmal etwas zu ändern, ist nicht so leicht.

Was wäre Ihnen bei dem Untersuchungsauftrag wichtig?

Es sollten auch Anschläge, die vor 2016 verübt wurden, miteinbezogen werden. Denn die Geschichte von rechten Angriffen in Neukölln ist sehr viel länger und die dahinterstehende Vernetzung sehr viel weitreichender. In diesem Zusammenhang lehnen wir auch den Begriff »Anschlagsserie« ab, der auf diese Tiefendimension und die Verstrickung der Behörden in die Anschläge nicht aufmerksam macht.
Wir wollen außerdem, dass der räumlichen Komplexität Rechnung getragen wird, also die Verbindungen in andere Berliner Bezirke mit aufgenommen werden. Wir wollen auch, dass bislang nicht aufgeklärte rechte Straftaten noch einmal betrachtet werden, wie zum Beispiel der Mord an Burak Bektaş 2012. Und auch die Pa­rallelen zum NSU-Komplex sollten noch einmal betrachtet werden.

Wie schätzen Sie die Chancen ein, dass sich der Untersuchungsausschuss mit der Rolle der Behörden im Neukölln-Komplex beschäftigen wird?

Da sind wir skeptisch. Unsere Erfahrungen aus den vergangenen Jahren haben uns gezeigt, dass es da kaum vorangeht. Das betrifft die Erfahrung, dass ein Untersuchungsausschuss auch auf zivilgesellschaftlichen Druck hin lange Zeit nicht eingesetzt wurde, sowie die, dass wir alles selbst aufdecken müssen. Das ist sehr frustrierend. Schon ein Jahr vor dem Anschlag auf den Abgeordneten Ferat Koçak (Linkspartei) haben Antifa und Presse beispielsweise darauf hingewiesen, dass unter anderem Sebastian T. und Tilo P. als mutmaßliche Täter in Frage kommen. Dass ein Polizist, gegen den im Februar ein Verfahren wegen eines rassistischen Angriffs auf einen Geflüchteten beginnen soll, als Ansprechpartner für die Betroffenen im Neukölln-Komplex eingesetzt war, haben auch wir aufgedeckt. Wir glauben, dass Polizei und Behörden diese Dinge aufgrund struktureller Probleme wie internalisiertem Rassismus auch gar nicht aufklären können. Trotzdem erhoffen wir uns von dem Untersuchungsausschuss Öffentlichkeit.

Gab es eine Reaktion auf Ihren Brief?

Ja. Die Abgeordneten des Untersuchungsausschusses haben die Initiativen und Betroffene zu einem runden Tisch eingeladen.