Die Biographie des Antifaschisten Richard Schmincke

Vorkämpfer für eine Sozialmedizin

Ricarda Bethke hat die Biographie ihres Vaters Richard Schmincke geschrieben, der zu den Mitbegründern der Sozialmedizin in Deutschland gehört.

»Du hast da ein Trauma, sagte man zu mir, als klar wurde, dass es etwas gab, was mich nicht losließ, es war der Suizid meines Vaters kurz vor dem Zweiten Weltkrieg und acht Wochen nach meiner Geburt.« So leitet die Journalistin Ricarda Bethke ihr Buch »Rotes Erbe« ein. Auf über 300 Seiten berichtet sie über das Leben ihres ihr unbekannten Vaters Richard Schmincke, der seinem Leben am 19. August 1939 in Berlin ein Ende setzte.

Es ist kein Zufall, dass man bei der Lektüre des Buchs an das Werk von Peter Weiss denken muss.

Im »Handbuch Deutscher Kommunisten«, das von der Bundesstiftung Aufarbeitung herausgegeben wird, ist unter den biographischen Angaben vermerkt, dass sich Schmincke auch in der Nazizeit als Arzt um jüdische Bürger und verfolgte Antifaschisten kümmerte. Als Grund für seinen Freitod wird dort neben seinem schlechten Gesundheitszustand der Verlust seiner beruflichen Existenz als Arzt genannt. Schmincke hatte im Ersten Weltkrieg als Schiffsarzt, Badearzt und Militärarzt gearbeitet, bevor er begann, sich unter dem Eindruck der Kriegsgräuel auch politisch zu betätigen.

1969 schrieb der SED-Kommunalpolitiker Max Opitz, der gemeinsam mit Schmincke von 1926 bis 1930 Mitglied der KPD-Fraktion im sächsischen Landtag war, »dass der Genosse Dr. Schmincke eine so seltene und überragende Persönlichkeit war, dass nur eine umfangreiche Forschung imstande sein könnte, seinen Lebensweg zu umreißen«. Über 50 Jahre später hat nun Ricarda Bethke dank umfangreicher Forschung eine Biographie ihres Vaters vorgelegt und damit einen Antifaschisten dem Vergessen entrissen.

Dazu geht Bethke weit zurück in die Jugend- und Studienjahre ihres Vaters Ende der neunziger Jahre des 19. Jahrhunderts in Marburg. Sie hat herausgefunden, dass der junge Medizinstudent 1897 zu mehreren Tagen Karzer verurteilt wurde, weil er auf der Straße der hessischen Universitätsstadt einen Konflikt mit einem Burschenschaftler handgreiflich ausgetragen hatte. Man könnte diesen Vorfall als den Beginn seines tätigen Engagements gegen faschistische Umtriebe bezeichnen. Schmincke trat bald in die SPD ein und stand in der Frühphase der Weimarer Repu­blik auch mit Anarchisten in Kontakt. Bethke betont, dass die Freundschaft zu dem Schweizer Sozialmediziner Fritz Brupbacher die politische Entwicklung ihres Vaters stark geprägt habe.

Brupbacher war zunächst in der anarchistischen Bewegung aktiv und wurde nach der Oktoberrevolution Anhänger der Bolschewiki. Einige Jahre spielte der Arzt und Schriftsteller in der Kommunistischen Partei der Schweiz eine wichtige Rolle. Wegen seiner Parteinahme für Trotzki wurde er 1933 aus der Partei ausgeschlossen. Auch in dieser Zeit blieb seine Freundschaft zu Schmincke bestehen.

Im März 1939 besuchte dieser Brupbacher während einer seiner letzten Auslandsreisen in Zürich. Sein Freund war zu diesem Zeitpunkt bereits ein entschiedener Kritiker der Stalinisierung. Wie Bethke zeigt, tauschten sich die Männer auch über die Entwicklung in der Sowjetunion und den Stand der kommunistischen Bewegung aus. »Nicht nur die Verfolgung durch die Feinde, die ihm die Arbeitserlaubnis nehmen wollten, hatten im März 1939 Richards Abwehrkräfte erschöpft, nein, auch sein Vertrauen in die Freunde war gebrochen«, schreibt Bethke über ihren Vater, dessen Verzweiflung viele Linke damals teilten. Während das NS-Regime sich immer weitere Teile des europäischen Kontinents unterwarf, verschwanden in der Sowjetunion im Rahmen der stalinistischen »Säuberungen« auch bekannte Kommunistinnen und Kommunisten aus verschiedenen Ländern in Gefängnissen oder wurden als Verräter geächtet und hingerichtet.

Peter Weiss schreibt in seinem Monumentalwerk »Die Ästhetik des Widerstands« über die große Verzweiflung vieler Antifaschisten, aber auch den Streit darüber, wie ernst man die Bedrohung durch den Nationalsozialismus nehmen müsse, der Freundschaften und Partnerschaften zerbrechen ließ. Es ist kein Zufall, dass man bei der Lektüre von Bethkes Buch an das Werk von Peter Weiss denken muss. Dieser hat darin dem Sozialmediziner Max Hodann, der immer wieder für die Einheit aller Nazigegner eingetreten war, ein literarisches Denkmal gesetzt. Hodann war eng mit Schmincke befreundet. Beide versuchten, in der Weimarer Republik konkrete Gesundheitsreformen durchzusetzen, und zählen zu den Mitbegründern der Sozialmedizin in Deutschland.

Schmincke wurde 1927 Dezernent für Gesundheit im Berliner Stadtteil Neukölln, gewählt mit den Stimmen der KPD, SPD und sogar fortschrittlicher Liberaler. Auch die Kämpfe von Pflegekräften für bessere Arbeitsbedingungen unterstützte er. Ihre Protestveranstaltungen konnten in kommunalen Räumen stattfinden. In Neukölln richtete Schmincke zudem die erste Sexual- und Eheberatungsstelle des Deutschen Komitees für Geburtenregelung ein.

»Am Beispiel von Neukölln konnte er zeigen, was möglich war mit einem kommunistischen Sozialprogramm an einer so entscheidenden Stelle und mit Kollegen, die er sich selbst aussuchen konnte, was er sofort tat. Er stellte lauter linke und darunter viele jüdische Mitarbeiter ein«, schreibt Bethke und nennt die Namen Ruth Lubliner, Käte Frankenthal, Magnus Hirschfeld sowie Georg und Hilde Benjamin, die ­spätere Justizministerin der DDR.

Das ging nicht lange gut, denn konservative, völkische und faschistische Kreise arbeiteten aktiv am Sturz von Schmincke und seinem Genossen Hodann, der das Gesundheitsamt von Berlin-Reinickendorf leitete. Im März 1933 entfernten die Nazis beide aus ihren Ämtern. Schmincke wurde angeklagt, weil er sich als Dezernent gegen den Anti­semitismus eingesetzt und in Neukölln mit einem Kreis linker jüdischer Ärztinnen und Ärzte Sozialreformen durchgesetzt hatte. Wegen »fehlender nationalsozialistischer Gesinnung« wurde ihm 1939 seine ­Approbation entzogen.

Während Schminckes Arbeit als Dezernent von Neukölln gut dokumentiert ist, bleibt seine politische Vita oft vage. Warum hat der Arzt, der mehrere Sprachen fließend beherrschte und gute Kontakte ins Ausland hatte, Deutschland nicht verlassen? Hing Schmincke wirklich zeitweilig der Illusion an, ausgerechnet im faschistischen Italien an seine Karriere als Badearzt in Rapallo vor dem Ersten Weltkrieg anknüpfen zu können? Oder waren die vielen Reisen, die Schmincke in den dreißiger Jahren in verschiedene europäische Länder führten, auch Teil seiner illegalen Arbeit für die KPD, wie es an manchen Stellen im Buch anklingt? Dagegen sprechen Einschätzungen seiner Genossen in der späteren DDR.

Offen bleibt auch, ob Schmincke einen Fluchtversuch aus Deutschland plante und Betrügern zum Opfern fiel, wie es in einer von Bethke zitierten Quelle heißt. Ist es Zufall, dass Schmincke wenige Tage vor dem Abschluss des deutsch-sowjetischen Nichtangriffspakts aus dem Leben schied? Für viele Kommunisten, die in der Sowjetunion das letzte Bollwerk gegen die Nazis gesehen hatten, war der im August 1939 geschlossene Vertrag eine große Enttäuschung. Nicht nur Willi Münzenberg, der langjährige Organisator großer antifaschistischer Kampagnen, brach daraufhin mit der KPD.

Es ist ein Gewinn, dass Bethke in ihrem Buch viele Fragen stellt. Auf ­einige wird es wahrscheinlich keine Antwort mehr geben. Das Buch könnte auch den Anstoß liefern, in Neukölln endlich eine Straße nach dem Antifaschisten und Sozialreformer zu benennen.

Ricarda Bethke: Rotes Erbe: Auf der Suche nach Richard Schmincke, meinem Vater. Vergangenheitsverlag, Berlin 2021, 336 Seiten, 20 Euro