Die gesellschaftliche Tragweite der Gesundheitspolitik wird oft unterschätzt

Entpolitisierte Gesundheitspolitik

Die gesellschaftliche Bedeutung der Gesundheitspolitik wird oft unterschätzt. Das zeigt vor allem das Beispiel der Pflege.

Der Einsatz des Krankenhauspersonals wird nicht mehr Abend für Abend beklatscht wie noch zu Beginn der Covid-19-Pandemie. Doch an den miserablen Arbeitsbedingungen hat sich wenig geändert. Dabei ist das Gesundheits­system seit Beginn der Pandemie ins Zentrum der öffentlichen Aufmerksamkeit gerückt. Pflege, medizinische Versorgung, die Auslastung der Krankenhäuser und die Grenzen der Notfallversorgung sind mediale Dauerthemen. Auch die Besetzung des Bundesministeriums für Gesundheit weckte nach der Bundestagswahl in der Öffentlichkeit großes Interesse – normalerweise interessieren sich dafür vor allem die berufsständischen Organisationen der Ärztinnen und die Lobby der Pharmaindustrie.

Nur ein kleiner Teil der Bevölkerung ist in der Lage, ambulante Pflege zu bezahlen. Pflegebedürftige Menschen werden auf niedrigem Niveau zum Objekt staatlicher Fürsorgepolitik gemacht.

In deutlicher Diskrepanz dazu fiel das Interesse der Ampelparteien an der ­Besetzung des Ministerpostens aus: Weder Grüne noch FDP erschienen be­sonders bemüht, das Ministerium zu gewinnen, in dem die Weichen für die Bekämpfung der Pandemie gestellt werden. Dabei wird das Gesundheitsministerium angesichts gesundheitspolitisch und gesundheitsökonomisch absehbar turbulenter Zeiten auch über die Pandemie hinaus an Bedeutung gewinnen. Der geringe Stellenwert, der der Gesundheitspolitik in Deutschland beigemessen wird, wurde auch deutlich, als die AfD-Bundestagsfraktion bei den Verhandlungen im neuen Bundestag nicht nur das Vorschlagsrecht für den einflussreichen Posten des Vor­sitzenden des Innenausschusses gewinnen konnte, sondern auch noch das für den Vorsitz des Gesundheitsausschusses.

Vielen gilt die Gesundheitspolitik vor allem als Versuch, die Interessen von Krankenkassen, Pharmaindustrie, niedergelassenen Ärztinnen und Krankenhausträgern auszugleichen. Doch es wäre eine verengte Sichtweise, die Auseinandersetzungen um diesen Markt, auf dem 2019 Leistungen im Gesamtwert von über 400 Milliarden Euro erbracht wurden, nur als Verteilungskämpfe zu betrachten. Das blendet die enorme gesellschaftliche Tragweite der Gesundheitspolitik aus und verstellt den Blick auf andere Wege, die Verhältnisse der Gesundheit und Pflege in Deutschland zu verbessern. Dies aber erscheint dringend ­erforderlich. Denn ebenso wie Gesundheit nicht nur ein Ergebnis von Medizin und medizinischer Versorgung ist, sondern auch in hohem Maße abhängig von sozialen Verhältnissen, prägt Gesundheitspolitik ihrerseits die ­Gesellschaft weitaus stärker, als das oft wahrgenommen wird.

Ein eindrucksvolles Beispiel dafür ist die Pflege von Menschen mit Behinderungen. Zu dieser Gruppe gehören nach der weiten Definition der UN-Behindertenrechtskonvention auch Menschen mit altersbedingten Einschränkungen und chronischen Erkrankungen, soweit diese wegen vorhandener Barrieren die Möglichkeit der »vollen, wirksamen und gleichberechtigten Teilhabe an der Gesellschaft« einschränken können. Mit der Pflegeversicherung gewährt der Gesetzgeber anders als für die Krankenversorgung lediglich eine Teilabsicherung. Das Resultat ist, dass insbesondere bei erheblichem Pflegebedarf nur noch ein kleiner Teil der Bevölkerung sich ambulante Pflege leisten kann.

In der ambulanten Pflege arbeiten oft Frauen aus Osteuropa, die bei den Pflegebedürftigen wohnen und für meist äußerst niedrige Löhne fast rund um die Uhr verfügbar sein müssen. Bis zu einer halbe Million Pflegekräfte leben dem Sozialverband VdK zufolge in deutschen Haushalten und betreuen dort alte Menschen. Im Juni stellte ein Urteil des Bundesarbeitsgerichts in Erfurt dieses Modell der häuslichen 24-Stunden-Pflege in Frage. Dem Gericht zufolge müssten nicht nur, wie bisher meistens der Fall, die Kernarbeitszeiten vergütete werden, sondern ebenso die Bereitschaftszeit.

Nur wenige können sich eine solche ambulante Pflege überhaupt leisten. Oft müssen die Familien (und hier in besonderem Maße Frauen) die Pflege­arbeit weitgehend unentgeltlich selbst erledigen – oder es ist der Weg in Pflegeeinrichtungen vorgezeichnet, deren Leistungen oft nicht ausreichen, um ein selbstbestimmtes Leben zu ermöglichen.

So werden pflegebedürftige Menschen auf niedrigem Niveau zum Objekt staatlicher Fürsorgepolitik gemacht, statt zu versuchen, trotz Beeinträchtigungen ihre Handlungsmacht zu bewahren. Ein Ergebnis dieser Misere ist, dass Pflegebedürftigkeit bei Be­troffenen, aber auch in der Gesellschaft insgesamt, mit einem weitreichenden Verlust von Würde und Autonomie gleichgesetzt wird. Dass Pflege rechtlich zudem nicht als Teilhabe- oder Rehabi­litationsleistung gefasst worden ist, verschärft diese Ausgliederung aus der Gesellschaft noch weiter. Denn damit ist es nicht Aufgabe der Pflegeversicherung, die »volle, wirksame und gleichberechtigte Teilhabe« der auf die ­Pflegeversicherung angewiesenen Menschen zu erreichen.

Dass im Ergebnis viele Menschen mit nennenswertem Pflegebedarf in Pflegeeinrichtungen gedrängt werden, hatte in der Pandemie bedrohliche Zusatz­effekte. In diesen Einrichtungen ist die Ansteckungsgefahr deutlich höher als in der ambulanten Versorgung. Die einschneidenden Schutzmaßnahmen, die deshalb nötig waren, haben die Freiheitsrechte der Bewohnerinnen und Bewohner erheblich beschnitten. Die Bedingungen der Pflege entmutigen die Betroffenen und gefährden ihr ­Leben.

Politisch ist dieses Thema weitgehend tabuisiert. In den achtziger Jahren gab es noch intensive Diskussionen über andere Lösungen dieses gravierenden Problems gesellschaftlicher Exklusion. Doch inzwischen sind durch den Ausbau und die Verfestigung stationärer Strukturen die Diskussionen über die Pflege weitestgehend erloschen. Und das trotz der offensichtlichen gravierenden Mängel und den immer deutlicher zutage tretenden Nachteilen und Gefahren des Status quo.

Auch im Kernbereich der medizinischen Versorgung, dem konkreten medizinischen Leistungsangebot, sind in der Pandemie gravierende Versorgungsdefizite zutage getreten. Eigentlich müsste das dazu führen, die zugrunde liegenden Strukturen in Frage zu stellen. Charakteristisch für den Umgang mit den Defiziten sind etwa die Entscheidungen der neuen Koalition. Sie hat mit dem Corona-Krisenstab und dem Corona-Expertenrat so früh wie möglich zwei neue, gesetzlich nicht vorgesehene Institutionen geschaffen. Dadurch wird suggeriert, dass Gesundheitspolitik und insbesondere die Abwehr großer Gefahren, wie sie die Pandemie mit sich bringt, in erster Linie eine technokratische Angelegenheit von Expertinnen wäre. Eine solche Haltung verdeckt die unterschiedlichen Interessenlagen im Krankenversorgungssystem. Ähnlich gingen die Große Koalition und der Vorgänger von Bundesgesundheitsminister Karl Lauterbach (SPD), Jens Spahn (CDU), vor, als es um die drohende Triage ging. Die Bundesregierung vermied es, eine Regelung treffen, und überließ die Verteilung knapper intensivmedizinischer Behandlungsressourcen, anders beispiels­weise als die Priorisierung der Impfstoffvergabe, den medizinischen Fachgesellschaften und der Ärzteschaft.

Das lenkt den Blick auf die außerordentlich schwache Rolle, die Vertreter und Vertreterinnen der (potentiellen) Patientinnen im Krankenversorgungssystem spielen. Im Gemeinsamen Bundesausschuss, der die Leistungen der gesetzlichen Krankenversicherung weitgehend selbständig ausgestaltet, sind Patientenorganisationen zwar vertreten, diese sind aber von der Ministerialbürokratie handverlesen, wenig zielgruppenspezifisch und wenig divers – zudem haben sie kein Stimmrecht. In anderen Verhandlungsgruppen und Expertinnenräten gibt es im Allgemeinen überhaupt keine Vertreterinnen von Patientinnen. Partizipation, insbesondere eine, die diesen Namen verdient, wäre aber gerade in der Gesundheitsversorgung zwingend erforderlich, um etwa Diskriminierung von Patientengruppen zu bekämpfen.