Der Wahn bleibt auch nach der Pandemie
Der Demonstrationstag in Berlin begann mit routiniertem Antisemitismus. Am Samstagmorgen diskutierte eine Frau mit einem Polizisten: Alles sei wieder wie 1933, empörte sie sich, Ungeimpfte seien die neuen Juden: »Wir werden doch jetzt auch verfolgt, wir dürfen nicht einkaufen.« Doch die Versammlung nahe der Jannowitzbrücke blieb verboten, die »Querdenker« zogen in überschaubaren Gruppen in Richtung Frankfurter Tor. Auf dem Weg dorthin kam es zu ersten Festnahmen. Vom dort aus marschierten einige Hundert »Querdenker« in Richtung Prenzlauer Berg, wenige Kreuzungen weiter hielt die Polizei den Protestzug an.
Ein ehemaliger Veranstalter von Fetischpartys, der jetzt im Superheldenkostüm gegen die »Neue Weltordnung« zu kämpfen meint; einstige Theatermacher, die sich für links halten und inzwischen ihre Anhänger per Steckbrief auf Journalistinnen ansetzen; ein paar Impfgegner, Esoterikerinnen, evangelikale Christen, irrlichternde Ex-Linke und natürlich Neonazis – das ist in etwa das Personal des Berliner »Querdenken«-Ablegers, der am vergangenen Wochenende einige Hundert Menschen für eine ungenehmigte Demonstration auf die Straßen brachte. Auch in anderen Städten wie Hamburg, Frankfurt am Main und Wien kam es am Wochenende zu Demonstrationen, diese fielen allerdings deutlich größer aus als in Berlin. Fast bei jeder kam es zu tätlichen Angriffen auf Journalistinnen und Journalisten.
Nach der Demonstration in Berlin waren viele Teilnehmer unglücklich über die Wirkungslosigkeit des kargen Protests. Es sei an der Zeit für andere Strategien, meinen
nun viele.
Das Berliner »Querdenker«-Milieu ist eine der kuriosesten lokalen Szenen. Tonangebend sind hier die »Freedom Parade« um den Aktivisten Michael Bründel, eine von ehemaligen Linken gegründete Gruppe namens »Freie Linke« und der selbsternannte »Demokratische Widerstand«, eine Gruppe um die beiden ehemaligen Theatermacher Anselm Lenz und Hendrik Sodenkamp.
Doch auch dieses Milieu geht gemeinsam mit gewaltbereiten Neonazis auf die Straße. Am Samstag hatte während der Demonstration eine Gruppe von Neonazis Julius Geiler, einen Reporter des Tagesspiegels, angegriffen. Geiler hatte gefilmt, wie die Gruppe offenbar einen Angriff auf Jörg Reichel plante, einen anwesenden Vertreter der Journalistengewerkschaft DJU, der schon im Sommer bei einer »Querdenken«-Demonstration angegriffen worden war. Daraufhin entwendete ein Mann Geilers Handy. Als andere Pressevertreter zu Hilfe eilten, griffen die Neonazis diese mit Faustschlägen an. Der Handydieb wurde von der Polizei gefasst.
Wenige Minuten später kam es zu einem weiteren Angriff auf eine Gruppe von Journalisten, wohl von Neonazis der Berliner Gruppe »Division MOL«. Im Nachhinein behauptete der »Demokratische Widerstand«, Reichel habe den Angriff auf den Tagesspiegel-Reporter inszeniert – er soll »Fake-Antifas« in die Demonstration geschleust haben, verbreitete die Gruppe auf Telegram.
Auch in Hamburg, Frankfurt und Wien sind Journalisten und Journalistinnen von Demonstrierenden bedroht und angegriffen worden. Dort waren die Demonstrationen, im Gegensatz zu Berlin, erschreckend gut besucht. Über 2 000 Querdenker und Rechtsextreme haben in Frankfurt demonstriert, darunter Szenegrößen wie der verschwörungstheoretische Autor Thorsten Schulte und rund 20 Anhänger der neonazistischen Kleinstpartei »Der III. Weg«. Aus dem Demonstrationszug wurde ein Filmender mit den Worten »scheiß Judenpresse« beschimpft.
In Hamburg wird inzwischen wieder jeden Samstag demonstriert. Die Besucherzahlen steigen: Im Oktober haben bloß 75 Menschen an den Protesten teilgenommen, Ende November waren es schon 4 000, vergangenes Wochenende dann der Polizei zufolge 5 000. In Sachsen finden seit Wochen regelmäßig Demonstrationen statt, die größtenteils von Rechtsextremen organisiert werden, vor allem von der Gruppe »Freie Sachsen«. Am Wochenende suchten zwei Dutzend mit Fackeln ausgerüstete Maßnahmengegner das Privathaus der sächsischen Gesundheitsministerin Petra Köpping (SPD) auf. In Wien sind am Samstag über 40 000 Menschen auf die Straßen gegangen. Die Proteste, die von der FPÖ und der Identitären Bewegung mitgetragen werden, haben wieder an Schlagkraft gewonnen, seit die österreichische Regierung einen Lockdown implementiert und eine ab Februar geltende Impfpflicht angekündigt hat.
Anders als in Österreich fehlen in Deutschland integrierende Führungsfiguren. Diesen Eindruck bestätigt der Politikwissenschaftler Josef Holnburger, der Geschäftsführer des Think Tanks Center für Monitoring, Analyse und Strategie (Cemas) ist. Vormals habe die Stuttgarter Initiative »Querdenken 711« um den IT-Unternehmer Michael Ballweg diese Rolle ausgefüllt. »Inzwischen ist ›Querdenken 711‹ aber sehr zerstritten und eigentlich am Ende«, sagt Holnburger der Jungle World.
Dass die Bewegung auf der Straße an Kraft verliere, sei aber kein Grund zur Entwarnung, denn die Zahl der Anhänger sei nach wie vor hoch. Cemas zufolge stagnieren die User-Zahlen einschlägiger Telegram-Kanäle zwar seit Monaten – doch sie sinken nicht. Gleichzeitig sei die Zahl verschwörungsideologischer Medienportale gestiegen. »Das wird bleiben, auch nach Corona«, sagt Holnburger.
Eine große Rolle spielten seit diesem Jahr neue Medienportale aus Österreich, die überwiegend der rechtsextremen FPÖ nahestünden. Auch etablierte Prediger wie Ken Jebsen seien geblieben. Unter dem Label »Apolut« lässt der Verschwörungsideologe weiter Mythen verbreiten, nachdem Youtube seinen alten Kanal »Ken FM« gesperrt hat. Und mit dem Widerstand gegen klimapolitische Maßnahmen hätten die Verschwörungsgläubigen auch schon ein Thema für die Zeit nach der Impfdebatte, sagt Holnburger: »Jede Maßnahme zur Eindämmung des Klimawandels wird als Great-Reset-Maßnahme geframt«, also als Teil einer globalen Verschwörung, die danach strebt, die Kontrolle über die Weltwirtschaft zu erlangen.
Gleichzeitig gebe es viele Anzeichen für eine Radikalisierung. Nach der »Querdenken«-Demonstration in Berlin waren viele Teilnehmer unglücklich über die Wirkungslosigkeit des kargen Protests. Es sei an der Zeit für andere Strategien, meinen nun viele. »Die Stimmung ist gerade extrem aufgeheizt«, sagt Holnburger. »Es wird verdammt anstrengend die nächsten Jahre.«