Homestory

Homestory #45

Zu den schönen Seiten der Arbeit als Redakteur gehört es, dass einem sehr viele Leute ungefragt E-Mails schreiben. Das findet zumindest ein Kollege, der inzwischen seit einigen Monaten bei der Jungle World arbeitet. Er habe es nett gefunden, dass das Tourismusbüro einer süddeutschen Stadt mit rund 85 000 Einwohnerinnen und Einwohnern während seines ersten Sommers in der Redaktion häufig Mails an sein Ressort geschickt habe. Jetzt, im Herbst, habe er schöne Erinnerungen an Nachrichten, in denen das Tourismusbüro versucht habe, ihn mit der Aussicht auf »sanft geschwungene Vulkanketten, märchenhafte Pfade und versteckte Buchten« sowie »Inspirationsmomente« für die rund 800 Kilometer von den Redaktionsräumen respektive seiner Wohnung in Berlin entfernte Stadt zu begeistern.

Natürlich bekommt man auch als Redakteur viele lästige Nachrichten, die bereits auf den ersten Blick äußerst dubios wirken und Links enthalten, die man besser nicht anklickt, wenn man verhindern will, dass das Arbeitsgerät sich einen Virus fängt – etwa von einer »Jenny«, die schreibt, dass sie »wie versprochen intime Fotos« schicke, und einem »Ricky Luxus«, der einem weismachen will, man müsse »nur einmal 500 US-Dollar« investieren, um »für viele Jahre Einnahmen von 300 bis 15 000 Dollar pro Tag« zu erzielen.

Aber diese Nachrichten bekommt ja nicht, weil man Redakteur ist, wie man mit einem Blick in den privaten Posteingang feststellen kann. Als Redakteur darf man sich ein bisschen wichtig fühlen, denn ständig wollen Leute einen über Dinge informieren, von denen man noch nie gehört hat, die diese Leute jedoch offenbar für relevant halten. Viele dieser Leute arbeiten für PR-Agenturen oder Beratungsunternehmen und verschicken ihre Mails offenbar wahllos an jede Redaktionsadresse, die sie auftreiben konnten. Wie sonst sollte man sich erklären, dass sie ausgerechnet die Jungle World mit Pressemitteilungen behelligen, bei denen es sich de facto um Werbung für die private Altersvorsorge handelt, oder mit Hinweisen auf Bücher, in denen es darum geht, weshalb die Zeit »reif für ein neues Verständnis von Führung« sei.

Gut, auch solche Mails sind lästig, aber die unterhaltsamen Mails, bei deren Lektüre man im oftmals stressigen Redaktionsalltag die Gedanken schweifen lassen kann, gibt es in reichlicher Zahl. Sie unterrichten einen zum Beispiel darüber, dass ein Agrarwissenschaftler einen Naturschutzpreis erhalten habe, weil er auf beeindruckende Weise erforsche, »wie landwirtschaftliche Produktionen und der Schutz der Artenvielfalt zusammengeführt werden können« – wobei man sich weniger für diese laut Pressemitteilung »unendlich wertvollen« Erkenntnisse des Forschers interessiert, sondern dafür, dass dieser »keinesfalls im Elfenbeinturm der Wissenschaft« sitze: »Als passionierter Schmetterlingskundler scheut er nicht davor zurück, in Gummistiefeln und mit Kescher und Kamera ausgerüstet in sumpfigen Feuchtwiesen nach seltenen Arten zu suchen.«

Und man selbst sitzt im grauen Berliner Herbst im Homeoffice, schreibt, recherchiert, plant und wartet auf das, was andere Leute »Inspirationsmomente« nennen.