04.11.2021
Hat der Iran die rote Linie bei der Urananreicherung schon überschritten?

Irans Zentrifugen drehen durch

Die neue iranische Regierung verzögert die Wiederaufnahme der Gespräche über das Wiener Atomabkommen. Gut möglich, dass der Iran die rote Linie bei der Urananreicherung schon überschritten hat.

Besitzt der Iran bereits genug Uran für eine Atombombe? Das Land sei »nur noch zwei Monate davon entfernt, sich die für eine Atomwaffe notwendigen Materialien zu beschaffen«, warnte der israelische Verteidigungsminister Benny Gantz bei einem Empfang für ausländische Diplomaten in Tel Aviv am 25. August. Danach werde das iranische Regime einige weitere Monate benötigen, um einsatzfähige Atombombe zu bauen, zu testen und sie in einem Raketensprengkopf zu montieren.

Die zwei Monate sind nun vergangen. Die sogenannte breakout time, die zeit­liche Distanz, die dem iranische Atomprogramm zum Erlangen des Bombenstoffs noch fehlen sollte, könnte also schon verstrichen sein. Nach dem Joint Comprehensive Plan of Action (JCPOA) genannten Wiener Abkommen sollte sie mindestens ein Jahr betragen. Doch ­internationale Aufregung scheint es deswegen nicht zu geben.

Der Iran habe genau die Fortschritte bei der Produktion von hochangerei­chertem Uran erreicht, die unbedingt hätten verhindert werden sollen, so der Leiter der Ab­­teilung für Über­wachungs­maßnahmen der IAEA.

Gewiss, ein wenig diplomatischen Wirbel wird um die Frage gemacht, war­um die seit August amtierende iranische Regierung die Verhandlungen zur Reaktivierung des JCPOA, die von ihrer Vorgängerin begonnen worden waren, immer noch nicht wiederaufgenommen hat. Irans neuer Atomunterhändler, Ali Bagheri Kani, zuvor einer der schärfsten Kritiker des JCPOA, versichert scheinheilig, man wolle ja, brauche aber noch Zeit, um sich einzuarbeiten. Sein Vorgesetzter, Außenminister ­Hossein Amir-Abdollahian, ein mit den Revolutionsgarden vernetzter Hardliner, fordert die Freigabe von zehn Milliarden US-Dollar eingefrorener iranischer Auslandsguthaben als Vorleistung der USA. Präsident Ebrahim Raisi zählt das Thema angeblich nicht zu seinen Prioritäten, und der Oberste Führer Ali Khamenei gab Raisis Vorgänger Hassan Rohani anlässlich seiner Entlassung mit auf den Weg, die ganze Westdiplomatie sei ein Fehler gewesen.

Angesichts der deutlichen Verzögerungstaktik regt sich Unmut bei den Regierungen der USA, Frankreichs, Deutschlands und Großbritanniens. US-Außenminister Antony Blinken betonte die Bereitschaft von US-Präsident Joe Biden, zum JCPOA zurückzukehren, aber irgendwann sei die Wiederherstellung des Status quo von 2015 einfach nicht mehr möglich. Die scheidende deutsche Bundeskanzlerin Angela Merkel sprach von einer sehr schwierigen Situation, entscheidende Wochen stünden bevor. »Mit jedem Tag wächst die Urananreicherung im Iran«, sagte Merkel, als nehme sie einen bereits zwei Jahre andauernden Prozess erstmals zur Kenntnis.

Alle sind beunruhigt, aber niemand ist bereit, sich mit der Einschätzung von Gantz auseinanderzusetzen oder sie wenigstens zu erwähnen. Diese wird allerdings von Experten der Nonproliferation, der Politik zur Vermeidung der Verbreitung von Atomwaffen, in vollem Umfang unterstützt. Der Iran überschreite gerade die Schwelle zur Atombewaffnung, sagte David Albright, der Präsident des ­Institute for Science and International Security, am 10. September. »Der Iran praktiziert den Ausbruch«, so Albright. Er ist ein ständiger Kritiker und Mahner, gut informiert, aber kein Alarmist. Das Gleiche gilt für Olli Heinonen, den früheren Leiter der Abteilung für Überwachungsmaßnahmen (Safeguards) der Internationale Atomenergiebehörde (IAEA). Für ihn hat sich die Situation »fundamental verändert«. Der Iran habe genau die Fortschritte bei der Produktion von hochangereichertem Uran erreicht, die unbedingt hätten verhindert werden sollen. Sie ließen sich nur noch durch eine Zerstörung der dafür erforderlichen Technik rückgängig ­machen.

Auch der Generaldirektor der IAEA, Rafael Grossi, sagt seit Monaten nichts anderes, wenngleich er diplomatischere Formulierungen benutzt. Am 7. September bezifferte die Agentur den Gesamtbestand an angereichertem Uran im Iran mit 2 441 Kilogramm. Darin enthalten seien 503 Kilogramm mit zwei Prozent Anreicherung, 1 775 Kilogramm mit fünf Prozent Anreicherung, 84 mit 20 Prozent und zehn mit 60 Prozent. Die restlichen 70 Kilogramm seien in Zwischenprodukten vorhanden. Anfang September besaß der Iran also bereits 23 Kilogramm des spaltbaren Isotops U-235 in Konzentrationen von 20 oder sogar 60 Prozent. Von dort ist es nicht mehr weit zur 90prozentigen Anreicherung, wie sie für eine Atombombe benötigt wird. Wenn man das vom Iran vorgelegte Tempo berücksichtigt, braucht es nur noch ein bisschen Oberschulmathematik, um exakt bei dem Ergebnis zu landen, das Gantz mitgeteilt hat.

Die genannten Zahlen beruhen auf den offiziellen Angaben, die das iranische Regime der IAEA gemacht hat. Diese Angaben kann die Wiener Agentur aber nicht verifizieren, da ihre Videoüberwachung iranischer Nuklearanlagen seit Februar unterbrochen ist. Angeblich lässt der Iran die Kameras weiter laufen und hält nur die Daten zurück, bis ein neues Atomabkommen zustande gekommen ist. Aber den einen oder anderen Ausfall hat es schon gegeben: sogenannte technische Störungen, ­Defekte, vollgelaufene Speicherkarten. Eine lückenlose Rekonstruktion der Überwachung wird nicht mehr möglich sein. Das bedeutet, dass die Tür zu Abzweigungen von Spaltmaterial für militärische Zwecke weit offen steht. Deshalb ist die IAEA besonders beunruhigt über vier nicht deklarierte Standorte, an denen sie nukleartechnische Arbeiten vermutet. Auskünfte darüber werden ihr konstant verweigert, Besuche erst recht.