Das Buch von Andreas Reckwitz und Hartmut Rosa über Gesellschaftstheorie

Durch die Mitte

Andreas Reckwitz und Hartmut Rosa streiten sich in einem gemeinsamen Buch über die Gesellschaftstheorie. Ihre Ideen, die zeitweise gar im Managersprech daherkommen, lassen aber eines außen vor: die Selbstreflexion des Denkens als Bedingung gesellschaftlicher Erkenntnis.

Die Soziologieprofessoren Andreas Reckwitz und Hartmut Rosa sind wahre Optimisten. Aber eher vom Schlag jenes Manageroptimismus, wie man ihn aus der Verkaufsbranche, beim Investment Consulting oder Persönlichkeitscoaching kennt. Dessen message ist, dass alles eigentlich nur eine Frage der richtigen Einstellung und Technik sei. Anstatt Finanzprodukte oder Selbstvermarktungsstrategie empfehlen Reckwitz und Rosa jedoch Welterklärung, nämlich Gesellschaftstheorie. Diese biete das passende Angebot, wenn in den unsicheren Zeiten einer aus den Fugen geratenen Welt wieder ein »drängender Wunsch nach Gesamtanalysen des gesellschaftlichen Zustandes« laut werde. Nur habe die Soziologie bisher einfach nicht geliefert. Stattdessen beobachte man eine »auf­fällige (…) Erosion der Bereitschaft und auch des Mutes«, sich den großen Fragen zu widmen. Da »darf sie sich nicht wundern, wenn andere ›Anbieter‹ in die Bresche springen«.

Für Reckwitz und Rosa bleibt Gesellschaftstheorie aber das Original, die »Kernaufgabe« beziehungsweise der »Fluchtpunkt des gesamten Unternehmens namens Soziologie«. Das legen sie in ihrem kürzlich erschienenen Band »Spätmoderne in der Krise. Was leistet die Gesellschaftstheorie?« dar. In jeweils einem ausführlichen Beitrag sowie einem moderierten Gespräch geben sie eine Art Bestandsaufnahme, was denn Gesellschaftstheorie sein müsse, »um die von ihr erwartete Leistung zu erfüllen«. Dabei haben die Autoren durchaus recht: Der schier überkomplexen gesellschaftlichen Realität, deren Krisen von Wirtschaft, Politik, Kultur und Öffentlichkeit deutlich aber ungedeutet zusammenhängen, steht kaum eine überzeugende The­orie von Gesellschaft als ganzer gegenüber.

Der Widerspruch zwischen Allgemeinem und Besonderem gleicht der ewigen Frage nach Henne und Ei, also ob nun Strukturen oder handelnde Subjekte die Gesellschaft bestimmten. Für Reckwitz und Rosa fehlt es da nur an einem innovativen Lösungsvorschlag.

Was bei Reckwitz und Rosa wie bloßes Marktversagen einer Wissenschaftsdisziplin klingt, ist in Wahrheit ein handfestes Problem: Denn scheinbar hat man nur die Wahl, Gesellschaft entweder als abstrakte Totalität zu bestimmen und auf Strukturprinzipien oder Ähnliches zu reduzieren; oder man betont die Vielzahl und Offenheit der Prozesse, aus denen sie entsteht, und erklärt damit die Unmöglichkeit, von Gesellschaft im Singular zu sprechen. Dieser ­Widerspruch von Allgemeinem und Besonderem gleicht der ewigen Frage nach Henne und Ei, also ob nun Strukturen oder handelnde Subjekte die Gesellschaft bestimmten. Für Reckwitz und Rosa fehlt es da nur an einem innovativen Lösungsvorschlag.

Andreas Reckwitz betont daher in seinem Beitrag, Gesellschaftstheorie sei als Werkzeug und Praxis zur Be­arbeitung bestimmter Aufgaben zu begreifen. Sie müsse schließlich empirische Forschung anleiten, bestehendes Wissen synthetisieren und eben einer interessierten Öffentlichkeit Orientierung bieten. Gesellschaftstheorie sei folglich eine »komplexe und systematische Interpretationsweise, um die chaotische Fülle der gesellschaftlichen Tatsachen in ihrer Gesamtheit zu begreifen«. Aber eben nicht als starres System, wie es Reckwitz der Geschichtsphilosophie von Hegel und der Kapitalismustheorie von Marx unterstellt, die gesellschaftliche Realität in eine Art Zwangskorsett gepresst hätten. Er braucht diese Pappkameraden des (ökonomischen) Reduktionismus, um solche Theorien als Ewiggestrige abzutun. Sie sind in dieser Argumentation schlicht unmodern. Denn Moderne bedeute genau einen ständigen Wandel, Fluidität, also Kontingenz. Eine Theorie der Moderne – und genau das ist Reckwitz zufolge die Gesellschaftstheorie – müsse entsprechend »sich durch die Materialien der sozialen Welt (…) ebenso wie von den Konsequenzen des eigenen Begriffsdesigns überraschen« lassen, durch »analytische Flexibilität und Wendigkeit«.

Deshalb entscheidet sich Reckwitz ganz pragmatisch für das toolkit der Praxistheorie, also dafür, die Welt als ein Ensemble von Praktiken zu beschreiben: Alles wird übersetzt in ein doing und Gesellschaft ist dann nicht viel mehr als die Art, wie in ihr Besonderheit oder Allgemeines, Vernunft oder Werte hergestellt werden. Der enorme Vorteil liege darin, dass ein solches Theorieverständnis eben die großen Widersprüche zwischen Individuum und Gesellschaft, Mikro- und Makroebene sowie letztlich zwischen Basis und Überbau einfach umschiffe. Während sich – aus einem für Reckwitz unerfindlichen Grund – alle Theorien irgendwie in diesen Dualismen verzettelten, könne er einen Zwischenweg gehen. Auf diesem lasse sich dann über die moderne Gesellschaft sagen, dass sie »von einem prinzipiell unendlichen, dialektischen Prozess der Öffnung und Schließung der Kontingenz des Sozialen gekennzeichnet« sei. Gesellschaftliches wird also mal mehr mal weniger als Veränderbares wahrgenommen und je nachdem verschieben sich Vorstellungen darüber, was als allgemein, was als objektiv vernünftig oder wünschenswert erscheint. Diese Verschiebungen kommen dann als Innovationsdynamik beziehungsweise als »ein radikales zeitliches Regime des Neuen« daher. Anhand dieser Strukturmerkmale der Moderne analysiert Reckwitz dann deren Transformation von Industrialisierung bis zur Spätmoderne.

Reckwitz schwebt damit eine »kritische Analytik« vor, die ohne große normative Voraussetzungen auskomme und besonders anschlussfähig ist in der Konkurrenz, die »eine pluralistische (Wissenschafts-)Kultur (…) für die Entwicklung einer Vielzahl von Theorievokabularen« eben bedeutet. Denn »eine neue Theorie ist dann gut, wenn sie attraktiv ist, wenn sie fasziniert«.

Auch Hartmut Rosa teilt diesen Wettbewerbsgedanken, wenn er nach dem gesellschaftstheoretischen »best account« sucht, der sich schließlich an seiner Leistungsfähigkeit und Überzeugungskraft bemesse. Wie bei Reckwitz braucht es dafür eine Theorie, die den alten Widerspruch zwischen Subjekt und Objekt, also von Struktur- und Handlungstheorie, überwinden könne. Und auch Rosa findet dafür eine Art magische Lösung in seinem Konzept der sozialen Energie. Denn die moderne Gesellschaft bestehe aus Strukturen und ­Institutionen, die auf »dynamischer Stabilisierung« basieren, und sie »bedürfen dazu einer Antriebsenergie, die sie aus den Ängsten, Wünschen und Ambitionen der Subjekte beziehen«. Wenn es also gelänge, diese Dynamik in die Analyse der Gesellschaft aufzunehmen, so ließe sich diese sogar weitertreiben. Von der Analyse käme man dann nicht nur zur Diagnose beziehungsweise Kritik, sondern sogar zur Therapie gesellschaftlicher Pathologien und Störungen.

Einen solchen Dreischritt entwirft Rosa: Die Moderne als spezifische Sozialformation der dynamischen Stabilisierung kennzeichne eine strukturelle Notwendigkeit von Wachstum und Beschleunigung, sowie die Ausdehnung dieses Prinzips. Diese Beschleunigungslogik sei aber »zu schnell« für Ökonomie, Natur und die Seele des Menschen und münde daher in Krisen sowie nicht zuletzt in »Entfremdung und Weltverstummen«. Von dieser kritischen Diagnose ausgehend könne man dann »wenigstens skizzenhaft einen Horizont für die Transformation des Bestehenden« zum Besseren entwerfen, den Rosa mit dem Konzept der Resonanz und »adaptiver Stabilisierung« verbindet.

Der Band schließt mit einem Gespräch beider Soziologen, in dem ­sowohl Unterschiede wie Gemeinsamkeiten diskutiert werden, ob man nun Max Weber oder Émile Durkheim nahestehe, ob Moderne eine geschlossene Formation sei oder sich in unterschiedliche Phasen aufteile oder ob die so maßgeblichen Kontingenzöffnungen und -schließungen nun einer dialektischen oder Pendelbewegung folgten. Wenn es dann um die politischen Konsequenzen der Theorie geht, wird es jedoch krude. Reckwitz sieht die Aufgabe der Theorie darin, der sozialen Realität immer wieder ihre Ver­änderbarkeit vorzuhalten, also »dass man sich auf der Seite der Kontingenzöffnung engagiert – und das ist modern«. Dieser Logik nach habe sich Rosa dann »auf die Seite der Moderne-Verächter oder zumindest der Moderne-Kritiker geschlagen«, weil er an einem anderen Ideal der Gesellschaft festhalte. Rosa ist also ­irgendwie utopischer Romantiker, während Reckwitz sich eher als li­bertär versteht.

Die innovativen Ansätze landen schließlich wieder bei ganz alten ­Dualismen. Sie sind so etwas wie die theoretische Variante einer Politik des Dritten Wegs, die den Widerspruch zwischen Besonderem und Allgemeinem damit aufzulösen versucht, dass sie einfach durch die Mitte zielt. Dem Widerspruch bleiben sie damit aber verhaftet, ganz praktisch. Genau deshalb zielte die kritische Gesellschaftstheorie von Marx bis zur Kritischen Theorie – die bei Reckwitz und Rosa nur wahlweise zur Abgrenzung oder als Dekor auftauchen – immer auf die Selbst­reflexion des Denkens als notwendige Bedingung gesellschaftlicher ­Erkenntnis: Die Widersprüche im Denken sind gesellschaftliche Widersprüche und nicht einfach nur das Resultat von besserer oder schlechterer Theorie. Das heißt, wenn Gesellschaft als ganze begriffen werden soll, dann muss sich das Denken als Ausdruck dieser Widersprüche erklären oder es bleibt Ideologie. Adorno etwa verwies immer darauf, dass der Widerspruch zwischen Besonderem und Allgemeinen selbst nur aus der gesellschaftlichen Beschädigung durch die Herrschaft des abstrakt Allgemeinen, des Kapitals, zu er­klären sei.

Für Reckwitz und Rosa ist die Selbstreflexion mit Bekenntnissen zu historischer Aktualität und der ­eigenen Situiertheit – was wenig anderes heißt, als dass eine Theorie der Moderne eben auch modern sein muss – zwar abgehakt, aber des­wegen das Problem nicht gelöst. Stattdessen wähnen sich die Autoren ­einfach darüber hinaus. Genau damit gehen sie dem Innovationszauber der sich vermeintlich ständig verändernden Gesellschaft auf den Leim, den sie dann als Strukturmerkmal proklamieren. Der Optimismus, solcherart kritische Gesellschaftstheorie zu revitalisieren, bleibt so Apologie des Bestehenden, nämlich einer Moderne, in der nicht mehr erkennbar ist, dass Gesellschaft vor allem durch Herrschaft zusammengehalten wird.

Andreas Reckwitz, Hartmut Rosa: Spätmoderne in der Krise. Was leistet die Gesellschaftstheorie? Suhrkamp, Berlin 2021, 310 Seiten, 28 Euro