Für den Mord an Hrant Dink sollen nun Mitglieder der Gülen-Bewegung verantwortlich sein

Alte Fragen, neue Abrechnungen

Im Fall des nationalistisch motivierten Mords an dem türkisch-armenischen Journalisten Hrant Dink beschuldigt die türkische Justiz nun Anhänger der Gülen-Bewegung als Hintermänner.

Fast 1,7 Millionen türkische Lira (umgerechnet 150 000 Euro) Entschädigung solle die Familie Hrant Dinks erhalten, entschied das türkische Revisionsgericht am 11. Oktober. Der Journalist war im Januar 2007 auf offener Straße von einem ultranationalistischen Jugendlichen erschossenen worden. Das türkische Innenministerium habe entscheidende Fehler gemacht, begründet die zehnte Strafkammer die Entscheidung. Beamte hätten die offensichtliche Bedrohung Hrant Dinks ignoriert und so ihre Amtspflicht grob verletzt. Das Innenministerium legte umgehend Berufung ein.

Dink war Armenier mit türkischer Staatsbürgerschaft und einer der Herausgeber der in Istanbul auf Armenisch und Türkisch erscheinenden Wochenzeitung Agos. Er engagierte sich für einen hassfreien Dialog zwischen Türken und Armeniern. Ultranationalistische Kreise diffamierten ihn gerade deshalb, rassistisch zu sein, sie wollten eine politische Entspannung sabotieren.

Die Hrant-Dink-Stiftung erhielt im Mai heftige Drohungen per E-Mail: »Verschwindet hier«; »Wir kommen unerwartet eines Nachts, wenn ihr es nicht erwartet«.

Im Oktober 2005 wurde Dink wegen angeblicher rassistischer Äußerungen gegen die Türken angeklagt; einer seiner Artikel impliziere, türkisches Blut sei giftig, so der Vorwurf. Tatsächlich hatte Dink in dem fraglichen Artikel die Diaspora-Armenier dazu aufgerufen, sich von ihrem Hass auf Türken zu befreien, der ihr Blut vergifte. Entgegen der Empfehlung einer juristischen Sachverständigenkommission wurde Dink damals zu sechs Monaten Haft auf Bewährung verurteilt, sein Rechtsmittel wies der Oberste Gerichtshof der Türkei 2006 ab.

Der Journalist zog daraufhin im Oktober 2006 vor den Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte, um sich rehabilitieren zu lassen. Zusammen mit türkischen Intellektuellen wie Orhan Pamuk und Elif Şafak beteuerte er immer wieder, sich für eine Versöhnung zwischen Türken und Armeniern einzusetzen. Doch bevor es zu einer Entscheidung kam, wurde er ermordet. Drei weitere Verfahren waren bei seinem Tod noch anhängig.

Der damals 17jährige Todesschütze Ogün Samast gehörte einem Netzwerk von Rechtsextremisten an, die ihn zu der Tat angestiftet hatten. Im Laufe des Prozesses staunte die Öffentlichkeit, dass die Polizeikräfte von Trabzon, der Stadt, aus der der Mörder stammt, und auch Mitglieder des Geheimdienstes in Ankara und Istanbul von den Mordplänen gewusst und nichts unternommen hatten.

Insgeheim wurde der Mord in rechtsextremen Kreisen als Heldentat gefeiert. Ein von einem Polizeireporter dem Fernsehsender TGRT zugespieltes Video zeigte Samast 36 Stunden nach der Tat zusammen mit Polizisten, die ihn am Busbahnhof von Samsun festgenommen hatten. Die Beamten hatten zusammen mit dem Tatverdächtigen ein gemeinsames Erinnerungsfoto mit der türkischen Flagge geschossen.

Ogün Samast sagte während des Prozesses, seine nationalistischen Gefühle seien das Motiv für seinen Gewaltakt gewesen. Am 25. Juli 2011 verurteilte ihn ein Jugendgericht in Istanbul wegen Mordes und illegalen Waffenbesitzes zu 22 Jahren und zehn Monaten Gefängnis. Die Skandalfotos jedoch hatten keine ernsthaften Folgen für die involvierten Sicherheitskräfte. Der Polizist, der sich mit Samast hatte ablichten ­lassen, stieg 2012 zum Generaldirektor der Polizei in Malatya auf.

Bis heute betont die Hauptanwältin der Familie Dinks, Fethiye Çetin, nicht ruhen zu wollen, bis alle Hintermänner des Komplotts bestraft worden sind. Ende September, kurz vor der Entscheidung für eine Entschädigungszahlung an die Familie Dinks, verurteilte die 14. Kammer des Strafgerichts in Istanbul Angeklagte in Abwesenheit zu teils hohen Gefängnisstrafen und Enteignungen. Doch die Vorgänge offenbaren vor allem, wie tief sich die türkische Justiz mittlerweile in einem Strudel von Abrechnungen befindet. Die Verurteilten werden allesamt beschuldigt, Anhänger der Gülen-Bewegung zu sein. Auch Fethullah Gülen selbst wird bezichtigt, Drahtzieher des Mordes an Dink gewesen zu sein. »Nun, wenn das so ist, warum ­haben die Ermittlungen vor zehn Jahre diese Erkenntnisse nicht an das Licht gebracht?« kritisierte Çetin nach der Verhandlung die richterlichen Entscheidungen.

Verschwundene Videoaufzeichnungen und andere Merkwürdigkeiten verhindern seit Jahren eine wirkliche Aufklärung. Immer mehr rücken ideologisch begründete Abrechnungen an ihre Stelle. Der Vorsitzende des Gerichts ordnete an, dass die Vermögen der flüchtigen Verurteilten Zekeriya Öz und Ekrem Dumanlı beschlagnahmt werden. Dumanlı ist Journalist. Öz ist ein ehemaliger Staatsanwalt, er war ab 2007 Chefankläger in den Ergenekon- und Balyoz-Prozessen. Diese gelten als Abrechnung der regierenden islamisch-konservativen Partei für Gerechtigkeit und Fortschritt (AKP) mit der einstigen Militärführung. Ehemalige Mitglieder des Generalstabs wurden angeklagt und verurteilt, Umsturzpläne gegen die Regierung geschmiedet zu haben.

Grundlage der Urteile waren zum Teil Szenarien aus Manövern der Streitkräfte, die theoretisch durchspielten, wie die Stadt Istanbul innerhalb eines Tages besetzt und die politischen Amtsträger entmachtet werden könnten. Um die Öffentlichkeit zu schockieren und einen starken Staat zu rechtfertigen, suggerierten die Ermittler aber auch die Existenz einer Liste von Prominenten wie Orhan Pamuk, die Ziel von Attentaten werden sollten. Was an diesen »Beweismitteln« echt ist und was nicht, ist bis heute unklar.

Der Ergenekon-Prozess dauerte von Anfang 2007 bis Mitte 2013, ein Mammutprozess, in dem Hunderte Armeeangehörige, teils im Ruhestand, Juristen, Geschäftsleute, Politiker und Journalisten als mutmaßliche Beteiligte an einer angeblichen Verschwörung verhaftet und am 5. August 2013 zu hohen Haftstrafen verurteilt wurden. Eine na­tionalistische Organisation namens Ergenekon soll einen wichtigen Bestandteil des sogenannten tiefen Staats dargestellt und ab 2003 durch Terror und Desinformation den Sturz der islamisch geprägten Regierung von Ministerpräsident Recep Tayyip Erdoğan betrieben haben. Der Journalist Nedim Şener stellte 2009 auch eine Verbindung zwischen dem Mord an Hrant Dink und den Seilschaften von Ergenekon her. Am 21. April 2016 hob der Oberste Gerichtshof die 275 Verurteilungen mit der Begründung auf, die Existenz der Ergenekon-Verschwörung sei nicht stichhaltig bewiesen worden.

Bereits Mitte 2015 war Zekeriya Öz als Staatsanwalt entlassen worden – zwei Jahre nachdem er in einem Korruptionsverfahren gegen verschiedene Regierungsmitglieder und Freunde des damaligen Ministerpräsidenten Erdoğan ebenfalls der leitende Ermittler gewesen war. Die Machtkämpfe in Regierungs- und Justizkreisen spitzten sich zu. Die Gülen-Fraktion, die im Polizeiapparat und in der Justiz federführend war, wurde immer mehr zu einem Rivalen der Regierung in Fragen der politischen Macht.

Im August 2015 leitete die Staatsanwaltschaft Istanbul ein Ermittlungsverfahren gegen Öz ein. Der Jurist entzog sich einer Vorladung durch Ausreise nach Deutschland. Nach dem vereitelten Militärputsch von 2016, der der Gülen-Bewegung zur Last gelegt wird, wurden Zehntausende aus dem öffentlichen Dienst suspendiert – vor allem Anhänger der Gülen-Bewegung und Kurden. Die Minderheitenpolitik der Regierung verändert sich seitdem rapide.

»Das liegt auch an einer erneuten Annäherung der Regierung an die vorher entmachteten nationalistischen militärnahen Kräfte«, sagte der Journalist und ehemalige Erdoğan-Bewunderer Cengiz Çandar der Online-Plattform Ahval. Der neu entflammte Konflikt zwischen Aserbaidschan und Armenien um die Region Bergkarabach im Juli 2020 und das Eingreifen der Türkei auf der Seite Aserbaidschans wirkte sich umgehend auf die armenische Minderheit in der Türkei aus. Die bereits 2007 von der Familie des Ermordeten gegründete Hrant-Dink-Stiftung erhielt im Mai dieses Jahres heftige Drohungen per ­E-Mail: »Verschwindet hier«; »Wir kommen unerwartet eines Nachts, wenn ihr es nicht erwartet«.

Die derzeitigen Entwicklungen im Prozess zum Mordfall Dink werfen vor allem Fragen auf. Nun soll der ehema­lige Staatsanwalt Öz zu den Hauptdrahtziehern des Mordes gehört haben. Die Anwältin Fethiye Çetin überzeugt das nicht. »Ermittlungen und Prozesse in der Türkei verändern sich wundersam im Wandel der politischen Seilschaften«, sagt sie. Und eine plötzliche finanzielle Entschädigung wirkt in diesem Zusammenhang eher wie ein Schweigegeld.