Die Folgen des Amoklaufs im russischen Perm

Der Feind von innen

Bei einem Amoklauf an der Staatlichen Universität Perm tötete ein Student sechs Menschen. In Russland wird darüber diskutiert, welche Konsequenzen aus der Tat zu ziehen sind.

Zwei Stunden habe es gedauert, bis die Polizei sie und ihre Gruppe evakuierte, sagt die Geschichtsdozentin ­Marija Romaschowa im Gespräch mit der Jungle World. Den Schock habe sie erst am nächsten Tag richtig gespürt. Romaschowa hatte sich während des Amoklaufs mit einer Schulklasse im von ihr geleiteten Universitätsmuseum eingeschlossen.

Es war ein gewöhnlicher Verkehrspolizist, der den fast dreiviertelstün­digen Amoklauf an der Staatlichen Universität Perm (PSU) beendete. Der 18jährige Timur Bekmansurow, ein Student der Juristischen Fakultät im ersten Semester, tötete am 20. September sechs Menschen, bevor der Schuss des Unterleutnants Konstantin Kalinin ihn außer Gefecht setzte. Kalinin war aus der naheliegenden Polizeistation zum Campus geeilt und den angeforderten Spezialeinheiten zuvorgekommen. Insgesamt wurden 49 Personen verletzt, nicht nur durch die aus einer Pumpgun abgefeuerten Kugeln des Amokläufers, sondern auch weil viele versucht hatten, sich durch einen Sprung aus dem Fenster zu retten. Bekmansurow liegt derzeit auf der Intensivstation, die Ermittlungen laufen.

Russische Hochschulen können normalerweise nur Mit­arbeiter und Studierende betreten, Außen­stehende müssen an Kontrollposten am Eingang ihren Ausweis und manchmal auch einen Passierschein vorzeigen.

Der Täter hatte in einem Abschiedspost in sozialen Medien minutiös beschrieben, wie er seit der zehnten Klasse von einem Amoklauf geträumt und für eine Waffe gespart habe. Sobald er volljährig geworden war, habe er alle notwendigen Prüfungen absolviert, den Waffenschein und unmittelbar danach die Schusswaffe sowie die Munition erworben. Die Psychologen, die ihm das obligatorische Gutachten für den Waffenschein ausstellen mussten, habe er problemlos täuschen können, wie der Jurastudent stolz berichtete. Wesentlich weniger Platz nehmen in jenem Post Angaben zu seinem Tatmotiv ein. Bekmansurow betont, dass er sich weder für Politik noch für Religion interessiere. Seit Jahren soll er Ekel vor Menschen empfunden haben; er kündigte an, einen Tag intensiver erleben zu wollen als andere ihr ganzes Leben.

Seit dem Amoklauf in einer Berufsschule in Kertsch vom 17. Oktober 2018, bei dem ein 18jähriger Student 20 Menschen und sich selbst erschoss sowie 70 weitere verletzte, schenkt man in Russland der Gefahr sogenannter Columbiners – benannt nach dem Massaker an der US-amerikanischen Columbine High School vom 20. April 1999 – viel Aufmerksamkeit. In diesem Jahr gab es bereits am 11. Mai an einer Schule in Kasan, der Hauptstadt der westrussischen Republik Tatarstan, einen Amoklauf, bei dem der Attentäter, ein 19jäh­riger ehemaliger Schüler, neun Menschen erschoss.

Wie nach jeder solchen Tat werden nun auch in Perm die Sicherheitsmaßnahmen diskutiert. Russische Hochschulen können normalerweise nur für Mitarbeiter und Studierende betreten, Außenstehende müssen an Kontrollposten am Eingang ihren Ausweis und manchmal auch einen Passierschein vorzeigen. Die PSU ist eine der wenigen Ausnahmen: Weil der Campus an einer Durchfahrtsstraße liegt, bleibt er rund um die Uhr zugänglich. Einzelne Gebäude sind jedoch nur für Inhaber von Magnetkarten über ein Drehkreuz passierbar, daneben kontrollieren stets Wachleute. Allerdings konnte Bekmansurow als eingeschriebener Student problemlos auf den Campus gelangen. Als er das erste Gebäude maskiert, mit Stahlhelm, Gewehr und Messer betrat, verletzte er den Wachmann mit mehreren Schüssen schwer, konnte sich ungehindert über mehrere Etagen bewegen und über einen Übergang in ein anderes Gebäude eindringen.

Lehrkräfte und Studierende verbarrikadierten sich derweil in den Seminarräumen. Bekanntheit erlangte der Literaturhistoriker Oleg Syromjatnikow, der den Studierenden sagte, hinter der verschlossenen Metalltür drohe ihnen keine Gefahr, und von ihnen verlangte, seiner Vorlesung weiter zu folgen. Derzeit ist die Universität noch geschlossen, es findet nur Distanzunterricht statt. Die Lehrkräfte erhielten eine Anleitung für die Kommunikation mit traumatisierten Studierenden.

Die Frage nach Konsequenzen für staatliches Handeln bleibt offen. Am 22. September erschien Aleksandr Bastrykin, der Vorsitzende des Ermittlungskomitees der Russischen Föderation, persönlich in Perm. Er leitet die Behörde seit ihrer Gründung 2011. Die Medien berichteten über den harschen Ton, den er gegenüber der Führung der örtlichen Sicherheitsbehörden anschlug. Einige Ermittler aus Perm sollen von dem Fall abgezogen worden sein. Einen Tag nach Bastrykins Besuch, am 23. September, beging Oberst Sergej ­Sarapulzew, der Leiter der Ermittlungsabteilung des Ermittlungskomitees für die Region Perm, Suizid. Sein Abschiedsbrief gibt keinen Aufschluss über die Motive. Lokale Medien berichteten, dass der Absolvent der juristischen ­Fakultät der PSU den durch die Tat ausgelösten Schock nicht verkraftet habe; andere gehen von familiären Problemen aus.

Bastrykin hat eine klare Meinung darüber, was junge Menschen zu Amokläufen treibt. In einem Interview mit der Nachrichtenagentur Tass sprach er davon, dass es notwendig sei, Kinder und Jugendliche »aus dem Internet herauszuziehen«. Denn dort, so Bastrykin, lernten sie in Online-Spielen, dass Probleme mit Gewalt zu lösen seien. »Materieller Wohlstand um jeden Preis« sei das Lebensziel vieler Heranwachsender, so der 68jährige General. Ferner beklagte er den allgemeinen Werteverfall, den er in Filmen und Theaterstücken der Gegenwart feststellt, und schlug vor, Jugendorganisationen zur geistig-moralischen Erziehung an den Schulen zu reaktivieren; konkret meinte er damit die 2015 von Präsident Putin per Erlass ins Leben gerufene, heute jedoch weitgehend inaktive »Russische Bewegung der Schüler«.

Auf solche Reden folgen in Russland nicht selten Vorschläge für die Verschärfung von Zensur und Überwachung im Internet. Auch über eine Änderung des Waffenrechts wird derzeit diskutiert, diesbezüglich äußerten sich allerdings vor allem Verfechter einer Lockerung, die behaupten, Amokläufe fänden dort statt, wo Attentäter auf unbewaffnete Menschen träfen.