Bei der Wahl zum Berliner Abgeordnetenhaus bemüht sich die SPD um die Außenbezirke

Außen hui, innen pfui

Am Sonntag findet nicht nur die Bundestagswahl, sondern auch die Wahl zum Berliner Abgeordnetenhaus und den Berliner Bezirksverordnetenversammlungen statt. Mit einer auf die in den Außenbezirken der Stadt lebenden Wahlberechtigten zugeschnittenen Kampagne schickt sich die SPD an, erneut stärkste Kraft zu werden.

In den vergangenen Wochen kreiste die regionale und überregionale Bericht­­­­erstattung zum Berliner Landeswahlkampf vorrangig um eine Person: Franziska Giffey, die Spitzenkandidatin der SPD. Giffey hat einen rasanten politischen Aufstieg hinter sich. 2010 wurde sie Bezirksstadträtin für Bildung, Schule, Kultur und Sport in Berlin-Neukölln, fünf Jahre später übernahm sie das Amt der Bezirksbürgermeisterin; 2018 wurde sie Bundesministerin für Familie, Senioren, Frauen und Jugend. Nun strebt sie das Amt der Regierenden Bürgermeisterin von Berlin an. Dieses Amt hat bislang ihr Parteikollege Michael Müller inne, der allerdings nicht mehr kandidiert und in den Bundestag wechseln will. In Berlin regiert die SPD derzeit in einer Koalition mit Bündnis 90/Die Grünen und »Die Linke«.

Mit der Betonung des Gegensatzes zwischen Innenstadt und Außen­bezirken versucht die SPD, in den konservativen Stadt­bezirken außerhalb des S-Bahnrings zu punkten.

Dabei schien Giffeys Karriere im vergangenen Jahr gefährdet: Im Mai 2021 empfahl eine Kommission der Freien Universität Berlin nach längerer Prüfung, Giffey den ihr von dieser Universität verliehenen Doktorgrad wegen erheblicher Verstöße gegen die Standards wissenschaftlichen Arbeitens zu entziehen. Sie trat daraufhin vom Amt der Familienministerin zurück, behielt jedoch die SPD-Spitzenkandidatur für die Wahlen zum Berliner Abgeordnetenhaus.

Dessen unbeschadet konnte die SPD seither in den Umfragen zulegen. In der zweiten Augusthälfte überholte sie in den Wahlprognosen die Grünen, die bis dahin hoffen konnten, stärkste Partei zu werden und ihre Spitzenkandidatin, Bettina Jarasch, zur ersten Frau an der Spitze einer Berliner Landes­regierung zu machen.

In dieser Situation ließ die SPD überraschend eine mit den Koalitionspartnern ausgehandelte Novellierung der Berliner Bauordnung und eine Erweiterung des Mobilitätsgesetzes platzen. Erstere hätte ökologischen Zielen im Baurecht größere Bedeutung verleihen, Letztere dazu beitragen sollen, den motorisierten Individualverkehr zurückzudrängen. Dabei handelt es sich nicht um politische Nebensächlich­keiten. Verkehr und Umweltschutz sind nach einer Umfrage des Meinungs­forschungsunternehmens Civey vom 14. September nach den Themen Mieten und Wohnen sowie innere Sicherheit die wichtigsten Probleme für die Berliner Wählerinnen und Wähler. Mit der Beendigung der Zusammenarbeit bei der Überarbeitung von Bauordnung und Mobilitätsgesetz kündigte die SPD die Kooperation insbesondere mit den Grünen auf.

Kurz zuvor hatte Giffey in einem Radiointerview mitgeteilt, dass Enteignungen für sie eine »rote Linie« darstellten und dass an der Forderung, große Immobilienunternehmen zu enteignen, künftige Koalitionsverhandlungen scheitern könnten. Dies rich­tete sich vorrangig gegen die Linkspartei, die in Berlin das Volksbegehren »Deutsche Wohnen und Co. enteignen« unterstützt, über das ebenfalls am Sonntag abgestimmt wird.

Diese umfassende Brüskierung der Koalitionspartner markiert den Abschied der SPD unter Giffeys Führung von der rot-rot-grünen Koalition und eine Hinwendung zu CDU und FDP. Tatsächlich bestehen in wichtigen Fragen Gemeinsamkeiten mit den Wahlprogrammen dieser Parteien. Alle drei sehen die Probleme am Berliner Wohnungsmarkt durch ein Ungleichgewicht von Angebot und Nachfrage begründet. Die Lösung soll deshalb mehr Wohnungsbau sein. Der Forderung nach Enteignung von Immobilienkonzernen halten die drei Parteien unisono entgegen, dass dadurch »nicht eine zusätzliche Wohnung« gebaut würde. Allerdings resultierten die drastischen Mietsteigerungen der vergangenen Jahre vor allem daraus, dass in großem Maßstab städtische Mietwohnungen privatisiert wurden und dass Wohnraum zum renditeträchtigen Anlageobjekt wurde.

Auch verkehrspolitisch sind die Gemeinsamkeiten der SPD mit FDP und CDU größer als mit den Grünen. Die Stadtautobahn A 100 wollen diese Parteien weiterbauen, die Straßen der Innenstadt sollen weiter vorrangig dem Autoverkehr gewidmet bleiben. Der Spitzenkandidat der FDP, Sebastian Czaja, träumte im Gespräch mit dem Tagesspiegel gar davon, »dass das Automobil der Zukunft in dieser Region entwickelt wird« und die Straßen Berlins quasi als Teststrecke dienen.

Mit dem Wahlkampfs­logan »Ganz sicher Berlin« folgt die Berliner SPD einer Linie, die die Partei prägt, seit sie Ende der neunziger Jahre unter dem damaligen Bundesvorsitzenden Gerhard Schröder das Motto des damaligen britischen Labour-Premierministers Tony Blair, »Law and order is a Labour issue«, adaptierte. Auch für den Berliner Landesverband ist das nichts Neues, der derzeitige ­Innensenator Andreas Geisel (SPD) befürwortet ebenfalls eine entsprechende Politik. Die SPD ist auch hier CDU und FDP näher als den Grünen und der Linkspartei, müssen diese doch auf eine Parteibasis Rücksicht nehmen, bei der ein hartes Durchgreifen gegen mutmaßliche ­Dealer und aktionistische Linksradi­kale durchaus nicht auf un­geteilte ­Begeisterung stößt.

Gefahren für die Demokratie dürften viele Wählerinnen und Wähler von Grünen und Linkspartei wohl eher mit der Unfähigkeit und dem erwiesenen Unwillen von Teilen der Berliner Polizei und Justiz assoziieren, den mutmaßlich rassistisch motivierten Mord an Burak Bektaş aufzuklären (Jungle World 14/2016) oder die Täter einer seit 2016 anhaltenden rechten Anschlagsserie zu überführen, als mit der sogenannten Clankriminalität. Gegen diese jedoch, so verkündete es Giffey im November 2020 nach ihrer Wahl zur SPD-Landesvorsitzenden, müsse vorrangig vor­gegangen werden: »Wir haben hier organisierte Clankriminalität in der Stadt, die macht den Leuten das Leben schwer.« Es sei »nicht zu akzeptieren, dass diese Menschen den sozialen Frieden stören und unsere freiheitlich-­demokratische Grundordnung mit Füßen treten«. Diesen »Feinden der ­Demokratie« müsse entgegengetreten werden.

Die offene und harte Abwendung der SPD von einem Mitte-links-Bündnis wird in den Medien zumeist als persönliches Projekt Giffeys dargestellt. Gerne wird das mit ihrer parteipolitischen Sozialisierung im tradi­tionell rechten Neuköllner Kreisverband erklärt. Giffey selbst nennt den früheren SPD-Bezirksbürgermeister Heinz Buschkowsky ihren politischen Mentor. Tatsächlich steht hinter dieser Wende eine strategische Entscheidung, die die Zukunft der Berliner SPD sichern soll. Verschiedene SPD-Politiker, wie zum Beispiel der Abgeordnete Sven Kohlmeier, argumentieren, dass 70 Prozent der Berliner Bevölkerung außerhalb des die Grenzen der Innenstadt markierenden S-Bahnrings leben. ­Diese Gebiete habe die Politik aber in den vergangenen Jahren vernach­lässigt.

In diesen Bezirken ist der Anschluss an den ÖPNV tatsächlich bei weitem nicht so gut wie innerhalb des S-Bahnrings; damit rechtfertigt die SPD nun, dass sie das Auto als innerstädtisches Verkehrsmittel verteidigt. Dabei geriert sie sich als Interessenvertreterin der in den Außenbezirken lebenden, aufs Auto angewiesenen »kleinen Leute« und stellt sich gegen die vermeintlich elitären Pläne des ökologischen Stadtumbaus in der Innenstadt. Gleichzeitig ist in den Außenbezirken die Forderung nach einer Enteignung der großen Immobilienkonzerne deutlich ­weniger populär. Es gibt die Befürchtung, dass die Entschädigungszah­lungen für eine Enteignung von Wohnungen in der Innenstadt zu Lasten der Infra­struktur der umliegenden Stadtteile gehen würden.

Mit der Betonung des Gegensatzes zwischen Innenstadt und Außenbezirken, durchaus unterlegt mit populis­tischen Tönen gegen eine abgehobene, ökologisch interessierte innerstädtische Mittelschicht, versucht die SPD, in den traditionell konservativ geprägten Stadtbezirken außerhalb des S-Bahnrings zu punkten. Erleichtert wird diese Hinwendung dadurch, dass in ehemals industriell geprägten Innenstadtbezirken wie Neukölln und Kreuzberg ein großer Teil der migrantischen Bevölkerung ohne deutsche Staatsbürgerschaft und damit ohne Stimmrecht – oder, im Fall von EU-Ausländern, nur mit Stimmrecht auf Bezirksebene – lebt, die in Berlin mehr als ein Fünftel der volljährigen Bewohnerinnen und Bewohner der Stadt umfasst.

Sollte die SPD die Wahlen zum Abgeordnetenhaus gewinnen, dann auch, weil es ihr gelungen ist, derartige Gegensätze in der Stadtbevölkerung wahltaktisch nutzbar zu machen. Dass Teile der Berliner SPD – genau wie der SPD-Kanzlerkandidat Olaf Scholz – die Erfolge der dänischen Sozialdemo­kraten mit Interesse beobachten, dürfte kaum noch verwundern.