Die Rhetorik von »Scham« und »Schande« in linken und liberalen Diskursen

Such a Shame

Immer öfter ist auch auf linker und liberaler Seite von »Schande« die Rede. Die Rhetorik des »shaming« wird aber nicht nur allzu gern von rechts adaptiert, sondern ist schon von sich aus antiemanzipatorisch.

Eine der berühmt gewordenen Szenen aus der HBO-Serie »Game of Thrones« zeigt den »Walk of Atonement« der Cersei Lannister (Lena Headey). Das Bußritual der inzestuösen Königsmutter wird ihr von der fanatischen Sekte auferlegt, die die Hauptstadt der sieben Königreiche übernommen hat. Sie setzt ihren ethischen Pietismus rigoros durch und bestraft jede Abweichung, denn diese verletzt die Reinheit der Gemeinschaft. Cerseis Strafe ist ­entsprechend eine öffentliche Ausstellung der Schande: Sie muss nackt unter Buhrufen die Straßen durchschreiten, ein buchstäblicher walk of shame.

Dieses regressive Ritual, das in der Serie in eine dem europäischen Mittelalter nachempfundene Welt eingebettet ist, scheint so weit weg gar nicht zu liegen. Die Praxis des shaming und die Rhetorik der Schande sind heutzutage nahezu allgegenwärtig. Ständig wird etwas als Verfehlung angeprangert, derer man sich schämen sollte: Rechtsextreme Netzwerke in der Polizei sind eine Schande, ebenso wie korrupte Politiker in der CDU. Die AfD soll sich ihrer antidemokratischen Ausrichtung schämen, die EU für ihr Grenzregime. Der Sturm auf das US-Kapitol sei eine »nationale Schande«, ebenso wie das gescheiterte Amtsent­hebungsverfahren gegen US-Präsident Donald Trump als Schande in die Geschichte des Senats eingehen werde. Trump nannte den angeblichen Wahlbetrug eine Schande, sein Nachfolger Joe Biden wiederum konterte mit demselben Begriff, als er die Trump’sche Migrationspolitik revidierte.

Der Verdacht liegt nahe, dass es sich beim inflationären Gebrauch des Begriffs Schande um ein Krisenphänomen der liberalen Demokratie handelt.

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