Analyse der Debatte über die Impfpflicht

Impfen besser freiwillig

Nachdem lange zu wenig Impfstoff vorhanden war, ist nun das Angebot größer als die Nachfrage. Wie man diese steigern kann, ist umstritten.

Von Menschen, die sich inmitten der Covid-19-Pandemie nicht gegen das grassierende hochgefährliche Coronavirus impfen lassen, geht eine epidemiologische Gefahr aus. Darüber, wie diese verringert werden kann, führen Politikerinnen, Virologen und andere Menschen eine emotional stark auf­geladene öffentliche Debatte, in der schnell von einem »Impfzwang durch die Hintertür« die Rede ist. Einen solchen beklagte kürzlich der frühere CDU-Innenpolitiker Wolfgang Bosbach, der derzeit seinen rechtslastigen Partei­kameraden Hans-Georg Maaßen in dessen Wahlkampf unterstützt.

Tatsächlich gibt es derzeit kaum jemanden, der im Zusammenhang mit der Pandemie ausdrücklich eine Form von Impfpflicht fordert. Die Bundeskanzlerin, der Bundesgesundheits­minister und auch die Bundesjustiz- und Familienministerin haben sich ausdrücklich dagegen ausgesprochen. Und auch in der Opposition gibt es dafür keine namhaften Verfechter.

Führende Grüne sehen allerdings die Gefahr, die von Nichtgeimpften in der Pandemie ausgeht, und halten daher, wie Robert Habeck, eine unterschiedliche Behandlung von Geimpften und Nichtgeimpften für plausibel und erforderlich: »In dem Moment, wo allen Menschen ein Impfangebot gemacht worden ist, sieht Solidarität so aus: Man muss sich nicht impfen lassen, aber kann nicht damit rechnen, dass alle anderen auf ihre Freiheit verzichten, weil man sich nicht hat impfen lassen.«

Die Linkspartei fokussiert dagegen eher auf die Abschaffung des Patentschutzes für die Impfstoffe. Die FDP gibt sich antistaatlich libertär und plädiert für die Gleichbehandlung von Geimpften und Getesteten, die AfD-Politikerin Alice Weidel bekennt offen, sich nicht impfen lassen zu wollen, und spricht sich entschieden gegen die »Diskriminierung gesunder Ungeimpfter« und Quarantäne aus, die sie als »Wohnungshaft« diskreditiert.

Derzeit gibt es für verpflichtende Impfungen keine Rechtsgrundlage. Eine solche kann auch nicht einfach eingeführt werden, denn angesichts des erheblichen Eingriffs, den die Impfpflicht in das Recht auf körperliche ­Unversehrtheit beziehungsweise das Recht auf Selbstbestimmung über den eigenen Körper bedeuten würde, erscheint ein Parlamentsgesetz als Rechtsgrundlage erforderlich.

Wie ein solches Gesetz aussehen könnte, vor allem aber welchen hohen Anforderungen es genügen muss, zeigt sich an der einzigen Pflichtimpfung, die seit 2020 im deutschen Recht normiert ist: der Pflicht für Kinder, bei Eintritt in die Schule oder den Kindergarten, sowie für Lehrerinnen, Erzieher, Tagespflegepersonen, medi­zinisches Personal und Flüchtlinge, die eine Gemeinschaftsunterkunft bewohnen, einen Nachweis über eine Masernimpfung vorzuweisen. Mit dem Masernschutzgesetz hat das Parlament das ­Infektionsschutzgesetz ergänzt. Ziel dieser Regelung ist es, die Immunitätsrate gegen die gefährliche Masernerkrankung von derzeit knapp über 90 Prozent auf 95 Prozent der Bevölkerung zu ­steigern. In Deutschland wurden 2005 2 465 Masernfälle gemeldet, 2019 ­waren es noch 545, 2020 lediglich 76.

Gegen das Masernschutzgesetz sind mehrere Verfassungsbeschwerden anhängig, über die der Erste Senat des Bundesverfassungsgerichts noch in diesem Jahr entscheiden will. Dabei wird er sicher auch auf die mittlerweile recht umfangreiche Rechtsprechung des Gerichts zu den Anforderungen an Zwangsbehandlungen beispielsweise in der Psychiatrie und im Maßregelvollzug sowie zum Recht auf Krankheit, aber auch auf die Schutzpflichten des Staates zurückgreifen. Die Große Kammer des Europäischen Gerichtshofes für Menschenrechte hat im April diesen Jahres auch mit Blick auf Pflicht­impfungen gegen neun Erkrankungen in der Tschechischen Republik festgestellt, dass diese keinen Verstoß gegen das Recht auf Achtung des Privatlebens in Artikel 8 der Europäischen Menschenrechtskonvention darstellen. Das Ziel der Impfungen erschien dem Gericht legitim und der Eingriff in die Privatsphäre verhältnismäßig.

Der bundesdeutsche Gesundheits- und Verfassungsrechtler Stephan Rixen, der die Kläger eines der gegen die Masernimpfung gerichteten Verfahren vertritt, sieht das strenger: »Bevor Zwang greift, muss der Staat auf mildere Mittel setzen.« Das Problem besteht mit Blick auf Covid-19-Schutzimpfungen in rechtlicher Hinsicht auch darin, zu klären, wie lange in einer Krisensituation mildere Mittel wie Impfkampagnen und -angebote bevorzugt werden müssen und wie man die Wirksamkeit unterschiedlicher Strategien vergleicht. Ob Tests diesbezüglich mit Impfungen gleichgesetzt werden können, ist ein Streitpunkt – insbesondere, wenn man berücksichtigt, dass vielerorts die Testpflicht nur unzuverlässig eingehalten wird.

Gleichzeitig dürfte schwer zu bezweifeln sein, dass sich die Impfangebote quantitativ und qualitativ verbessern lassen. Staatliche Zwangsmaßnahmen dürften zudem gesellschaftliche Nebenwirkungen verursachen, die die positiven Effekte einer verpflichtenden Impfung aufwiegen könnten. Vermutlich wäre einiges gewonnen, wenn man die Debatte auf ihren sachlichen Kern zurückführen würde, wie es vor kurzem der deutsche Gesundheitsrechtler Thorsten Kingreen in einem Aufsatz getan hat: Es geht nicht um die Frage, ob jemand sich durch Impfverweigerung selbst verwirklichen darf oder ob es erlaubt sein soll, Impfen autoritär durchzusetzen; im Zentrum steht vielmehr die Frage der Abwehr konkreter Gefahren für Individuen und die Gesellschaft insgesamt.

Menschen, die nicht geimpft sind, gefährden sich selbst und andere – da­rauf muss der Staat, angesichts der Intensität der Gefahr, mit verhältnismäßigen Schutzmaßnahmen reagieren. Das Angebot von Impfungen ist das einfachste und beste Mittel. Wenn es nicht angenommen wird, erscheinen Zugangsbeschränkungen zu öffentlichen Orten, an denen die Gefahren sich konkret realisieren können, erforderlich – aber nach derzeitigem Stand auch ausreichend.