Ein Fazit der Fußball-Europameisterschaft der Männer

Fußball gegen alle

Ein Fazit der Fußball-Europameisterschaft der Männer.

»Fußball für alle« – es war ein ehrenwertes Motto, das der europäische Fußballverband Uefa für die Fußball-Europameisterschaft (EM) der Männer 2020 ausgesucht hatte. Ein besonderes Turnier sollte es werden, das nicht an einem Ort, sondern über den gesamten Kontinent verteilt stattfinden würde. Als die Uefa nach der coronabedingten Absage im vergangenen Sommer nun in diesem Jahr vehement auf der Austragung der EM beharrte, zeichnete sich ab, dass aus der ursprünglichen Vision nichts werden würde. Doch weder Reisebeschränkungen und steigende Inzidenzen noch despotische Regimes und nationalistisches Gebaren hielten den Verband davon ab, ein Turnier durchzuziehen, das tatsächlich einzigartig war. Wobei ein zynischeres Motto als »Fußball für alle« für diese Veranstaltung wohl kaum denkbar gewesen wäre.

Die pandemiebedingten Einschränkungen beschäftigten die Machtspieler des europäischen ­Fußballs schon Monate vor Beginn des Turniers, oder besser gesagt: Sie suchten nach den bestmöglichen Tricks, um jene zu umgehen. So ­forderte die Uefa bis April alle designierten Austragungsorte der EM auf, Zuschauer im Stadion zuzulassen. Der SPD-Gesundheitsexperte Karl Lauterbach nannte dies »eine Form der Erpressung«.

Während aller drei Spiele der ungarischen Auswahl konnte sich die neonazistische Gruppierung Carpathian Brigade, ein Zusammenschluss von Ultras und Hooligans verschiedener Vereine, ungehindert in Szene setzen.

Dennoch versprachen auch die Verantwortlichen am deutschen Spiel­ort München, dass rund 15 000 Zuschauer pro Spiel anwesend sein dürften – in einer Zeit wohlgemerkt, als selbst private Zusammenkünfte weniger Personen noch staatlich reglementiert wurden. Ungarns Ministerpräsident Viktor Orbán sagte gar trotz einer lokalen Siebentageinzidenz von damals rund 400 zu, dass das Stadion in Budapest in jedem Fall komplett gefüllt werden könne – spätestens von da an war er partner in crime des Uefa-Präsidenten Aleksander Čeferin. Einzig die geplanten Spielorte Dublin und Bilbao zogen ihre Teilnahme als Reaktion auf die Uefa-Zumutungen zurück.

Dass volle Stadien in einer weltweiten Pandemie vor allem zur Verbreitung des Virus beitragen würden, bestätigte sich spätestens nach dem EM-Beginn am 11. Juni. Zwar waren Fußballfans aus dem Ausland vielerorts nur unter Auflagen zugelassen, doch sorgte insbesondere die grassierende Delta-Variante von Sars-CoV-2 für zahlreiche Ansteckungen. Bereits zum Ende der dritten Turnierwoche waren mehr als 2 500 Covid-19-Fälle im Zusammenhang mit EM-Spielen bekannt geworden. Als in Großbritannien die Kritik an der Austragung der Finalspiele vor Zuschauern in London wuchs, drohte die Uefa Medienberichten zufolge, die Spiele nach Budapest zu verlegen. Die britische Regierung erhöhte da­raufhin trotz steigender Inzidenzen im Land die zugelassene Zuschauerzahl in Wembley auf fast 70 000.

Ohnehin gab die EM ein Zeugnis von der Zerrissenheit des Vereinigten Königreichs. Während man etwa in Schottland für die Gegner Englands fieberte, beförderte dort eine nationalistische Welle die Nationalauswahl bis ins Finale des Turniers. Das ­Ressentiment brach sich Bahn, als im entscheidenden Elfmeterschießen gegen Italien die drei schwarzen Spieler Marcus Rashford, Jadon Sancho und Bukayo Saka ihre Versuche vergaben. In den sozialen Medien wurden sie angefeindet und rassistisch beleidigt.

Premierminister Boris Johnson sagte, die Verbreiter solcher Äußerungen »sollten sich schämen«, doch nicht wenige geben ihm eine Mitschuld an der aufgeladenen Stimmung. So hatte er vor der EM die Gelegenheit verpasst, sich eindeutig zu positionieren, als die eigenen Fans Englands Spieler ausbuhten, weil diese wie andere Teams auch die populäre antirassistische Geste des »Taking the knee« zeigten. Viele Engländer solidarisierten sich allerdings auch mit den Angegriffenen; zwei Tage nach dem Finale fand eine Demonstration vor einem zerstörten Wandbild von Marcus Rashford in Manchester statt.

Tiefe ideologische Gräben wurden auch an anderer Stelle deutlich. So konnte sich während aller drei Spiele der ungarischen Auswahl die neo­nazistische Gruppierung Carpathian Brigade, ein Zusammenschluss von Ultras und Hooligans verschiedener Vereine, in Szene setzen. Die Fans zeigten unter anderem Hitlergrüße sowie LGBT-feindliche Plakate und verunglimpften französische Spieler mit Affenlauten. Erst nach dem Turnier intervenierte die Uefa und ­bestrafte den ungarischen Verband.

Anderer Stelle zeigte die Uefa deutlich mehr Engagement. Kurzzeitig wurde gegen den deutschen Spieler Manuel Neuer ermittelt, der mit einer regenbogenfarbenen Kapitänsbinde aufgelaufen war. Die Uefa wertete dies zunächst als unzulässiges politisches Symbol. Aus dem gleichen Grund verhinderte der Verband, dass zum Spiel Deutschland gegen Ungarn die Münchner Arena in den Farben des Regenbogens beleuchtet würde, wie ein Antrag des Münchner Stadtrates gefordert hatte. Die Ab­sage der Uefa führte zu einer bemerkenswerten – und oft wohl wenig mehr als symbolpolitischen – Solidarisierungswelle hierzulande, der sich von großen Unternehmen über kleine Fußballvereine, Stars und Sternchen bis hin zu erzkonservativen Unionspolitikern ein jeder anschließen wollte, um mit dem Regenbogen zu posieren.

Selbst die Uefa färbte ihr Logo in den sozialen Medien entsprechend ein – ohne aber die ungarische Regierung und deren reaktionäre Politik direkt anzugehen. Stattdessen achtete der Verband penibel darauf, sich nur dort zu bekennen, wo es erwünscht war. Niederländischen Fans wurden Regenbogenfahnen auf der Fanmeile in Budapest abgenommen, dänische Fans mussten sie beim Spiel im aserbaidschanischen Baku abgeben. Der EM-Sponsor Volkswagen gab bekannt, dass regenbogenfarbene Bandenwerbung bei den Spielen in Baku und Sankt Petersburg untersagt wurde. Ohnehin war zumindest die Austragung von Spielen in Baku schon im Vorhinein aufgrund der schwierigen Menschenrechtslage in Aserbaidschan (Thema Jungle World 16/2021) scharf kritisiert worden. Doch die Uefa hatte zu diesem Zeitpunkt bereits einen luk­rativen Sponsorendeal abgeschlossen – wie im Übrigen auch mit den ebenfalls umstrittenen EM-Sponsoren Gazprom aus Russland, Qatar Airways sowie vier chinesischen Unternehmen.

»Fußball für alle« – das hätte das Motto eines Turniers sein können, das für ein liberales Europa steht, das Grenzen überwindet und Inklusion, Vielfalt und Menschenrechte zu seinen Werten macht. Doch die Interpretation der Uefa war eine andere: »Für alle« meinte, trotz Covid-19-­Toten Zuschauermassen zuzulassen und auch mit den Autokraten Europas zu kooperieren.

In gut 16 Monaten beginnt die schon jetzt nicht nur von Menschenrechtsorganisationen scharf kritisierte Fußball-Weltmeisterschaft der Männer im Emirat Katar. Man darf auf das Motto des Turniers gespannt sein.