Der institutionelle Putsch des tunesischen Präsidenten

Der institutionelle Putsch

Der tunesische Staatspräsident Kaïs Saïed hat die Macht an sich gerissen und die Arbeit des Parlaments suspendiert.
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Der diesjährige tunesische Nationalfeiertag, der Tag der Republik, war ereignisreich. Kaum hatte der türkische Parlamentspräsident Mustafa Şentop von der islamistischen AKP am Sonntag seinem tunesischen Amtskollegen Rachid Ghannouchi von der islamistischen al-Nahda zum Nationalfeiertag gratuliert und den Mitgliedern der Versammlung der Volksvertreter (ARP) Erfolg gewünscht, war das tunesische Parlament bereits von der Armee umstellt. Ghannouchi wurde der Zutritt zum Gebäude verwehrt, auf Facebook verlautbarte al-Nahda am Abend, es handele sich um einen »Putsch gegen die Revolution und die Verfassung«.

Tagsüber hatten Tausende in verschiedenen Städten Tunesiens trotz der wegen der eskalierenden Covid-19-Pandemie verhängten Ausgangssperre demonstriert, vor allem gegen die Regierung von Ministerpräsident Hichem Mechichi und die sie stützende al-Nahda; teils griffen Protestierende deren Parteibüros an. Die islamistische Partei ist seit dem Sturz des autokratischen Präsidenten Zine al-Abidine Ben Ali 2011 an jeder gewählten tunesischen Regierung beteiligt gewesen.

Am Abend verkündete der reaktionäre parteilose Staatspräsident Kaïs Saïed in einer Videoansprache, er übernehme die Macht. Offensichtlich hatte er sich mit der der Armeeführung abgesprochen. Er setzte Mechichi ab und suspendierte die Arbeit des Parlaments für 30 Tage. Zudem hob er die Immunität aller Abgeordneten auf und kündigte Ermittlungen gegen alle Politiker an, die im Verdacht stehen, gegen geltendes Recht verstoßen zu haben. Im Übrigen werde er Dekrete erlassen.

Saïed berief sich bei seiner Machtübernahme, mit der er den seit Monaten schwelenden Konflikt mit der Regierung und dem Parlament zunächst zu seinen Gunsten entschied, auf Artikel 80 der tunesischen Verfassung von 2014. Dieser räumt dem Präsidenten das Recht ein, bei drohender »schwerer Gefahr für Einheit, Sicherheit und Unabhängigkeit des Landes« außergewöhnliche Maßnahmen zu ergreifen. Aber gemäß diesem Artikel wird das Parlament dann als permanent tagend betrachtet (considérée en état de session permanente), keinesfalls darf es suspendiert werden.

Für den renommierten tunesischen Verfassungsrechtler Yadh Ben Achour ist der Rückgriff des Präsidenten auf Artikel 80 daher nur ein »simples Alibi«. In einem Interview mit der frankophonen tunesischen Tageszeitung La Presse verwies er auf seine wiederholten Warnungen vor einem »permanenten Staatsstreich gegen die Verfassung«. Bereits der »berühmt-berüchtigte Brief vom 13. Mai 2021« habe Pläne enthalten, die Verfassung unter Berufung auf Artikel 80 außer Kraft zu setzen; das sei nun geschehen. Den Brief, der an Saïeds Stabschefin Nadia Akacha adressiert war, hatte das Magazin Middle East Eye vor gut zwei Monaten veröffentlicht. De facto konzentriert der Präsident nun in seinen Händen die Macht der Exekutive, der Legislative und der Justiz.

Aber das semiparlamentarische politische System Tunesiens ist in den Augen weiter Kreise der Bevölkerung diskreditiert, vor allem wegen der andauernden wirtschaftlichen und sozialen Krise und der verfehlten Pandemiepolitik. Im Parlament spielten sich in den vergangenen Wochen groteske Szenen ab. Anlässlich der Debatte über die Eröffnung eines katarischen Entwicklungsfonds in Tunis ohrfeigte ein islamistischer Abgeordneter die Politikerin Abir Moussi, eine Anhängerin des autoritären Politikmodells von Ben Ali, ein anderer versetzte ihr einen Tritt. Jüngst sorgte das Verteidigungskomitee der 2013 von Islamisten ermordeten linken Politiker Chokri Belaïd und Mohammed Brahmi für Aufsehen, als es ein zunächst geheim gehaltenes behördliches Dossier über den mittlerweile suspendierten hochrangigen Richter Béchir Akremi veröffentlichte; er habe jahrelang in Tausenden jihadistischer Terrorfälle nicht richtig ermittelt, teils Beweismittel unterdrückt, so der Vorwurf.

Am Dienstag traf sich Präsident Saïed mit Vertretern des mächtigen Gewerkschaftsverbands UGTT, des Unternehmerverbands Utica und menschenrechtlicher Gruppierungen. Der fortschrittliche Journalist Samy Ghorbal meint, der Präsident beute zynisch den legitimen und verständlichen Überdruss der Bevölkerung und insbesondere der Jugend aus, um seinen Traum von Allmacht und einer Republik der Volkskomitees zu erfüllen. Aber mangels Kompetenz, verlässlicher Entourage und Verbündeter könne er Tunesien aus der verfahrenen Situation, in der sich das Land befinde, nicht herausbringen.