Aserbaidschan droht Armenien mit weiteren Gebietsansprüchen

Bergkarabach ist nicht genug

Aserbaidschan stellt implizit weitere Gebietsansprüche an Armenien, doch das enge Bündnis des Diktators Alijew mit der Türkei ist Russland ein Dorn im Auge.

Ein Waffenstillstand wurde im November 2020 unterzeichnet, doch beendet ist der Konflikt zwischen Armenien und Aserbaidschan nicht. So gab es am 19. Juli erneute Gefechte. Einem Bericht des armenischen Online-Portals Hetq zufolge feuerten aserbaidschanische Militäreinheiten mit Maschinen­gewehren in Richtung der Dörfer Sotk und Kut, den Angaben des Gemeindebürgermeisters zufolge wurde jedoch niemand verletzt. Zuvor war am 14. Juli an der Grenze zur aserbaidschanischen Enklave Nachitschewan ein armenischer Militärposten im Ort Jerasch angegriffen worden, das armenische Verteidigungsministerium teilte mit, dass ein armenischer Soldat dabei starb. Auch in der Region Bergkarabach, die im Krieg vergangenen Jahres zu großen Teilen unter aserbaidschanische Kontrolle geriet, sowie in Aserbaidschan kam es im Juli in diversen Orten wie Ağdam oder Tovuz zu Kämpfen, bei denen Soldaten auf beiden Seiten verletzt wurden.

Ilham Alijews Eroberungs­phan­tasien werden in Armenien sensibel registriert. Möglicher­weise sind sie vor allem Rhetorik, um bei Ver­hand­lungen über einen abschlie­ßenden Friedensvertrag zu punkten.

Die Dimensionen des jüngsten Kriegs mit weitreichenden Drohneneinsätzen vor allem von aserbaidschanischer Seite, mit Luftbombardements und mindestens 7 000 Toten erreichen die neuen Scharmützel nicht. Denn die Situation am Boden hat sich grundlegend verändert: Russische Truppen überwachen den fragil erscheinenden Waffenstillstand und die nicht weniger fragil erscheinende Autonomie der selbsternannten armenischen Republik Arzach, die nach den aserbaidschanischen Gebietsgewinnen beinahe völlig umzingelt ist (Jungle World 47/2020). Der Zugang von armenischer Seite über den verbliebenen Latschin-Korridor ist stark reglementiert, außer russischen und armenischen Staatsbürgern werden derzeit kaum auswärtige Gäste in die armenische Enklave hineingelassen, wie das Online-Portal Eurasianet berichtet.

In Aserbaidschan hingegen zelebriert man den Sieg über den Erzfeind weiterhin unverhohlen – auch mit ausländischen Gästen. Am 9. und 10. Juli besuchte eine Botschafterdelegation mit Teilnehmern aus der Türkei, Österreich, Schweden, Italien, Israel, Japan und China den Ort Schuscha in Berg­karabach. Armeniern ist die Stadt als Schuschi bekannt, sie war vor der Eroberung durch das aserbaidschanische Militär im Herbst die zweitgrößte Stadt der Enklave. Die armenische Bevöl­kerung ist geflohen. Jetzt will Aserbaidschans Diktator Ilham Alijew Schuscha zur »kulturellen Hauptstadt« des Landes machen und alte Moscheen sowie Gebäude restaurieren.

Für die Bevölkerung und die Regierung Armeniens dürften solche internationalen Besuche in der ethnisch gesäuberten Stadt eine Provokation darstellen – zumal Schuscha bereits im vorigen Monat zum symbolischen Ort für eine weitere Vertiefung der Kooperation zwischen Aserbaidschan und der Türkei wurde. Am 15. Juni betraten der türkische Präsident Recep Tayyip Erdoğan und Alijew den Ort gemeinsam, bezeichneten ihre Länder wiederholt als »Brudervölker« und unterzeichneten ein bilaterales Abkommen. Darin wurden unter anderem ein Verteidigungsbündnis der beiden Länder sowie erweiterte gemeinsame Militärübungen vereinbart. Auch die Unverletzlichkeit der Grenzen wurde festgehalten.

Doch dürfte sich dieser Passus wohl nur auf die Staatsgrenzen der Türkei und Aserbaidschans beziehen. Obwohl das Alijew-Regime sowie Aserbaidschans außerparlamentarische Opposition im Konflikt mit Armenien auf die territoriale Integrität als völkerrechtliches Prinzip pochen (während sich die Republik Arzach auf das Selbstbestimmungsrecht der Völker beruft), scheint man im Falle Zyperns mit anderen Maßstäben zu messen. Der nördliche Teil der Insel ist von der Türkei besetzt und wird international nicht als eigener Staat anerkannt. Dennoch besuchte im Juli eine aserbaidschanische Delegation Nordzypern; Regierungsvertreter und Staatsmedien fordern immer wieder, dass Aserbaidschan die Unabhängigkeit Nordzyperns anerkennen solle.

Die weiterreichenden Implikationen des Schuscha-Abkommens dürften jedoch vor allem die geopolitische Ordnung im Südkaukasus betreffen. Während zur Zeit der Zaren und der Sowjetunion die Region vor allem unter russischer Hegemonie stand und durch diverse Straßen und Zugverbindungen vernetzt war, brach diese Infrastruktur mit der Unabhängigkeit Armeniens und Aserbaidschans 1991 zusammen. Armeniens Grenzen zur Tür­kei und zu Aserbaidschan sind bis heute geschlossen, Bahngleise wurden stillgelegt. Nach den Vorstellungen von Alijew und Erdoğan soll sich das ändern: Die Bahnverbindungen zwischen der Türkei, Armenien, Iran und Aserbaidschan sollen künftig wieder in Betrieb genommen werden.

Vor allem die militärische Koopera­tion zwischen Aserbaidschan und der Türkei stößt in Russland auf Ablehnung. Durch die türkische Armeepräsenz in Aserbaidschan und den potentiellen Aufbau eines permanenten Stützpunkts sieht sich Russland mit Truppen eines Nato-Mitglieds im Südkaukasus konfrontiert – eine Region, die in Moskau als traditionelle russische Einflusssphäre betrachtet wird. Nach Erdoğans Besuch in Schuscha verkündete Dmitrij Peskow, der Pressesprecher des russischen Präsidenten Wladimir Putin: »Der Einsatz von militärischer Infrastruktur von Nato-Bündnismitgliedern in der Nähe unserer Grenzen ist Grund für unsere besondere Aufmerksamkeit.« Russland werde Schritte einleiten, um seine Sicherheit und seine Interessen zu verteidigen.

Die implizite Drohung aus Moskau kommt in einer Zeit, in der Aserbaidschan nach dem Sieg über Armenien immer selbstbewusster seine regionale Macht demonstriert. Die geplante Bahntrasse zu Aserbaidschans Exklave Nachitschewan soll durch Armeniens südliche Provinz Sjunik führen (Jungle World 16/2021). Diese heißt in Aserbaidschan Westsangesur.

»Westsangesur ist unser historisches Land«, sagte Ilham Alijew bei der Eröffnung einer Unterkunft für die Familien gefallener Soldaten in Baku. »Der ­Sowjetstaat hat Sangesur Aserbaidschan entrissen und Armenien übergeben. Das ist Teil einer relativ jungen Geschichte, vor 101 Jahren. Warum sollten wir sagen, das sei nicht passiert? Wir sagen die Wahrheit. Wir werden dahin zurückkehren und wir kehren bereits zurück. Niemand kann uns aufhalten.«

Auch bei den Kämpfen im Dorf Kut in Gegharkunik im Juli sprach das aserbaidschanische Verteidigungsministerium vom Dorf »Zerkend in der Region Basarketschar«, was einige Beobachter bereits als indirekten Territorialspruch gegen Armenien betrachten. Der aserbaidschanische social media-Analyst Cavid Ağa schrieb dazu auf Twitter: »Das aserbaidschanische Verteidigungsministerium benutzt zeitgenössische administrative Namen für armenische Siedlungen. Das ist neu.«

Alijews Eroberungsphantasien werden in Armenien sensibel registriert. Möglicherweise sind sie vor allem Rhetorik, um bei Verhandlungen über einen abschließenden Friedensvertrag mit Armenien Druck auszuüben. Aserbaidschan könne die finale Anerkennung der territorialen Integrität Armeniens als mildtätige Konzession verkaufen, mutmaßte der Journalist Joshua Kucera in einer Analyse bei Eurasianet. Ob diese Taktik aufgeht, bleibt abzuwarten. Während Alijew behauptet, sein Konfliktgegner blockiere die Aufnahme formeller Friedensverhandlungen, dementierte dies Armeniens Ministerpräsident Nikol Paschinjan. Aserbaidschans Strategie sei »vorhersehbar«, sagt Paschinjan. Dies schaffe nur Vorwände für eine weitere »aggressive Politik« des Nachbarn.

Paschinjan steht nach dem Erfolg seiner Partei bei der Parlamentswahl im Juni gestärkt da. Obwohl sein Ansehen nach dem verlorenen Krieg und wegen seinem aus Sicht vieler Armenier mangelnden Verhandlungsgeschick gegenüber Aserbaidschan und Russland stark gelitten hat, konnte seine Partei Zivilvertrag die absolute Mehrheit der Stimmen gewinnen, verlor damit aber knapp ihre vorherige Zweidrittelmehrheit der Sitze im Parlament. Paschinjans politisches Überleben wird nicht nur davon abhängen, ob er die Rückkehr der letzten armenischen Kriegsgefangenen aus Aserbaidschan erwirken kann. Maßgeblich dürfte vor allem sein, ob es ihm gelingt, bei den Friedensverhandlungen die Unabhängigkeit der Republik Arzach und der dort lebenden Armenier zu bewahren. Sollte sich Aserbaidschan mit seiner Forderung durchsetzen, die Herrschaft auch über die Reste des Gebiets zu erlangen, dürften auch die letzten Armenier aus Arzach fliehen.