In Frankreich mussten Emmanuel Macron und Marine Le Pen bei den Regionalwahlen eine Schlappe hinnehmen

Die doppelte Schlappe

Sowohl Emmanuel Macrons wirtschaftliberale Partei LREM als auch Marine Le Pens rechtsextremer RN erlitten bei den Regional- und Bezirkswahlen einen Rückschlag. Die Wahlbeteiligung war extrem niedrig.

Der Regierungschef winkte ab. Es sei »kein Protest, sondern nur Desinteresse«. Mit diesen Worten tat der französische Premierminister Jean Castex zu Wochenbeginn die niedrige Beteiligung an den französischen Regional- und Bezirksparlamentswahlen an den beiden zurückliegenden Sonntagen ab. Knapp 67 Prozent der Wahlberechtigten blieben dem ersten, knapp 66 Prozent dem zweiten Durchgang fern – das sind Rekordwerte.

Vertreter anderer Parteien sprachen unterdessen eher von einem Warnsignal für die Demokratie. Politiker des rechtsextremen Rassemblement national (RN) beschworen gar eine »Demokratie in Not«, dies allerdings wohl vor allem, weil ihre Partei am stärksten durch die Stimmabstinenz ihrer Wählerschaft beeinträchtigt wurde; ersten Auswertungen zufolge gingen zwischen 69 und 73 Prozent ihrer bekennenden Wählerschaft nicht zur Wahl.

Eine Kandidatur des prominenten Fernsehjournalisten Éric Zemmour bei der Präsidentschaftswahl 2022 als rechtsextremer Konkurrent von Marine Le Pen deutet sich an.

Je jünger und je mehr im Berufsleben stehend die Wahlberechtigten sind, desto stärker ist die Tendenz zur Wahlabstinenz, die bei den Wohlhabenden und den Rentnern vergleichsweise gering ausfiel. Eine in den französischen Pyrenäen erscheinende Regionalzeitung titelte deswegen am Montag provokativ von »Zensuswahlrecht«, doch natürlich war Geringverdienern, anders als beispielsweise im preußisch-deutschen Kaiserreich, das Stimmrecht nicht vom Staat vorenthalten worden.

Über die Ursachen der geringen Wahlbeteiligung wird noch debattiert. Der Neubeginn des öffentlichem Lebens und die Wiederaufnahme von Sozialkontakten nach der jüngst erfolgten Aufhebung der meisten Coronabeschränkungen trugen sicherlich dazu bei. Aber auch die mehrfache Verschiebung der Regionalwahlen sorgte für das geringere Interesse. Sie hätten zunächst Ende 2020 stattfinden sollen, dann im Februar oder März 2021, um genügend Abstand zur für April 2022 geplanten Präsidentschaftswahl zu halten, die mittlerweile vorbereitet wird. Doch wegen der Pandemiesituation wurden sie jeweils aufgeschoben.

Auf den ersten Blick herrscht eine gewisse politische Stabilität. Alle 13 Regionalpräsidenten und -präsidentinnen im europäischen Frankreich – in la France métropolitaine, auf dem Staatsgebiet ohne die Überseeterritorien – wurden erneut ins Amt gewählt, nirgendwo trat eine Änderung ein. Fünf von ihnen gehören der Sozialdemokratie an wie Carole Delga in der südwestfranzösischen Region Occitanie, die mit dem höchsten Ergebnis wiedergewählt wurde. Die Mehrheit der Gewählten sind Konservative wie Laurent Wauqiez in Auvergne-Rhône-Alpes und Xavier Bertrand in Hauts-de-France, seien sie Mitglieder der Partei Les Républicains (LR) oder parteilos wie Bertrand.

Die politische Ausgangssituation ähnelt der vor 2017. Damals begann der Aufstieg des Wirtschaftsliberalen Emmanuel Macron, der behauptete, »das Beste aus der Rechten und der Linken gleichermaßen« in seiner Bewegung zu übernehmen. So konnte er diffuse Veränderungshoffnungen aufgreifen und den Parti socialiste (PS) und die Konservativen gleichermaßen verdrängen. Der Ausgang der Präsidentschaftswahl im Frühjahr 2017 ebenso wie jener der Europaparlamentswahl im Mai 2019 schienen zu bestätigen, dass man sich künftig allein zwischen den Wirtschaftsliberalen und der ­extremen Rechten entscheiden müsse.

Die Einschätzung, dieses »Duell« werde auch die für den 10. und 24. April kommenden Jahres geplante Präsidentschaftswahl prägen, dominierte bis zum 20. Juni die innenpolitischen Debatten. Nun straften die Wahlberechtigten sowohl Macrons Retortenpartei La République en marche (LREM) als auch in etwas geringerem Ausmaß den RN ab.

LREM konnte in mehreren Regionen nicht einmal zehn Prozent der Stimmen auf sich vereinigen, die dort erforderlich sind, um an der Stichwahl teilnehmen zu können. Landesweit erhielten die Partei und ihre Verbündete, die kleine zentristische Partei Mouvement démocrate (Modem), die zusammen fast zwei Drittel der Sitze in der Nationalversammlung innehaben, nur sieben Prozent der Stimmen. Nun ist sogar die Rede von einer Auflösung der Präsidentenpartei LREM. Der Vorsitzende ihrer Senatsfraktion, François Patriat, erklärte dazu: »Wir haben keine Mitglieder, wir haben Mausklicker.« Ein Klick im Internet genügte für den Beitritt zur Partei.

Manche ihrer Abgeordneten scheinen daran zu denken, eine neue Sammlungsbewegung für die Präsidentschaftswahl zu gründen. Andere vermuten, dass es für ein solches Manöver zu spät sei. Teile der politischen Führungsschicht scheinen bereits darauf zu spekulieren, dass Xavier Bertrand, der noch am Abend seiner Wiederwahl als Regionalpräsident in der Regionalhauptstadt Lille vor laufenden Kameras seine Kandidatur für die Präsidentschaftswahl ankündigte, künftig besser die Geschäfte des Kapitals führen könne als Macron.

Der Präsident und die Regierungsspitze konterten und kündigten zu Wochenbeginn an, ein Teil der im Frühjahr 2020 wegen der Coronakrise aufgegebenen, zuvor heftig umkämpften Rentenreform solle nun im Schnellverfahren durchgesetzt werden. Noch im Oktober solle das gesetzliche Mindestalter für den Renteneintritt auf 64 Jahre angehoben werden. Bisher betrug es 62 Jahre, wobei jedoch allen jenen Abzüge drohen, die nicht 42 Beitragsjahre zur Rentenkasse aufweisen. Macron möchte dadurch seinen Reformwillen unter Beweis stellen. Vielleicht denkt er auch bereits an das politische Erbe, das er hinterlässt. Der Arbeitgeberverband Medef ist jedoch skeptisch: Er will erst im Herbst 2022 die Renten reformieren, wenn ein neues Staatsoberhaupt mit hinreichend politischer Legitimität ausgestattet sei, um eine effiziente Durchsetzung zu garantieren.

Auch der extrem rechte Rassemblement national ist geschwächt. Bis zuletzt hielt die Partei, und nicht nur sie selbst, einen anderen Ausgang vor allem in der südostfranzösischen Region Provence-Alpes-Côte d‘Azur für möglich. Die Umfragen prognostizierten im Laufe der Woche zwischen den beiden Wahlgängen ein Kopf-an-Kopf-Rennen zwischen dem bürgerlichen Amtsinhaber Renaud Muselier und dem rechtsextremen Spitzkandidaten Thierry Mariani in der Stichwahl. Letzterer war unter dem konservativen ­Präsidentent Nicolas Sarkozy (2007 bis 2012) anderthalb Jahre lang Minister und schloss sich 2019 dem RN an. Doch Mariani unterlag mit rund 42,7 zu 57,3 Prozent letztlich klar. Dass der Mann jahrelang als Lobbyist für Wladimir Putin und Bashar al-Assad gewirkt hatte, dürfte ihm bei der Wahl eher nicht genutzt haben.

Noch ungünstiger für den RN ist, dass er statt 358 Regional- und 62 Bezirks­parlamentariern, die 2015 gewählt worden waren, künftig nur noch über 252 Regionalabgeordnete sowie 26 Bezirksverordnete verfügt. Die Partei benötigt jedoch deren Unterschrift. Diese Parlamentarier sind, neben Bürgermeistern – der RN zählt um die 15 in seinen Reihen – und Mitgliedern des Senats beziehungsweise der Abgeordnetenkammer sowie Europaparlamentsabgeordneten, dazu berechtigt, eine Unterschrift für die Unterstützung einer Präsidentschaftskandidatur abzugeben; 500 solcher Unterschriften sind nötig. Die RN-Vorsitzende Marine Le Pen, und vor ihr ihr Vorgänger und Vater Jean-Marie Le Pen, hatten oft Probleme, diese zusammenzubekommen.

Das größte Ungemach aber ist, dass sich in den vergangenen Monaten eine rechtsextreme Konkurrenzkandidatur bei der Präsidentschaftswahl andeutete. Und zwar in Gestalt des prominenten Fernsehjournalisten Éric Zemmour, der dem RN eine zu weitgehende ideologische »Aufweichung« vorwirft, die zu Desinteresse und Motivationsverlust seiner Wähler geführt habe.

Die Niederlage des RN scheint Zemmours Anhänger zu beflügeln. In den Stunden nach der Stichwahl wurden massenhaft Plakate für Zemmour in Paris, Toulouse und anderen Städten verklebt. Die Unterstützerkomitees für ihn organisiert im Hintergrund eine erst 27jährige hohe Staatsbeamtin, Sarah Knafo, Richterin am französischen Rechnungshof. Die Absolventin der Elitehochschule Ena und Spitzenbeamtin absolvierte 2018 ein Verwaltungspraktikum bei der französischen Botschaft in Tripolis und arbeitete daran, dass Migranten Libyen nicht oder jedenfalls nicht in Richtung EU verlassen können. Später folgte ein weiteres Praktikum bei der Generaldirektion für Ausländerwesen im Innenministerium.

Knafo arrangierte unter anderem ­eines der Treffen zwischen Zemmour und dem nun mit 55 Prozent der Stimmen wiedergewählten konservativen Regionalpräsidenten in Lyon, Laurent Wauquiez. Letzterer gilt nun, neben Xavier Bertrand und der Pariser Regionalpräsidentin Valérie Pécresse, als einer drei wichtigsten Anwärter auf die konservative Präsidentschaftskandidatur im kommenden Jahr. Von den dreien ist Wauquiez am ehesten bereit, einem bestimmten Segment der extremen Rechten entgegenzukommen. Generell dürfte jedoch damit zu rechnen sein, dass das konservative Lager unter der Hand eine Kandidatur Zemmours favorisiert, um dem Konkurrenten RN das Wasser abzugraben.