Im Gespräch mit der Sinologin Susanne Weigelin-Schwiedrzik über Parteigeschichtsschreibung in China

»Der Einfluss der Maoisten ist gewachsen«

Für Chinas Kommunisten war die eigene Geschichtsschreibung immer ein Mittel, um Konsens in der Partei herzustellen. Seit Xi Jinping Generalsekretär der Partei ist, wächst die Kontrolle über Geschichtsschreibung in China wieder.
Interview Von

Susanne Weigelin-Schwiedrzik ist emeritierte Professorin für Sinologie am Institut für Ostasienwissenschaften der Universität Wien. Sie forscht seit vielen Jahren zur Parteigeschichtsschreibung der Kommunistischen Partei Chinas.

 

Diesen Donnerstag lässt die Kommunistische Partei Chinas (KPCh) ihren 100. Geburtstag feiern. Welche Rolle spielt die Parteigeschichtsschreibung für die KPCh?

Seit ihrer Gründung im Jahr 1921 nutzte die Partei die Auseinandersetzung mit ihrer Geschichte immer wieder, um Mitglieder oder die Bevölkerung, zu »ver­einigen«, wie man auf Chinesisch sagt, also einen Konsens herzustellen. Zunächst betraf das die Parteimitglieder: Ab 1942 gab es die von der KP initi­ierte Yan’an-Ausrichtungungsbewegung (benannt nach der Stadt in Nordchina, die nach dem »Langen Marsch« von 1934/35 als Basis der KPCh diente, Anm. d. Red.). Mao versuchte, die aus der Sowjetunion zurückgekehrten Kader zurückzudrängen und eine chinesische Form des Marxismus zu entwickeln. Dazu gehörte es, eine entsprechende Version der Geschichte der Partei an die Mitglieder zu vermitteln.

»Die jetzige Parteigeschichts­schreibung will zeigen, dass die kommunistische Partei als einzige politische Kraft den chinesischen Traum verwirklichen konnte.«

Nach der Gründung der Volksrepublik China ging es darum, viele neue Mitglieder, aber auch ehemalige Mitglieder der nationalistischen Guomindang-Regierung, die man brauchte, um das Land zu regieren, beizubringen, in den Kategorien der Partei zu denken. Dazu wurde ihnen als Erstes ein Studium der Parteigeschichte verordnet. Auch an allen Universitäten wurde das Fach Parteigeschichte eingeführt, und alle Studenten mussten es belegen und in ihm Prüfungen ablegen.

Wie hat Mao die Parteigeschichtsschreibung geprägt?

Mao nahm nie direkt Einfluss auf die Parteigeschichtsschreibung, anders als Xi Jinping heutzutage. Aber die Geschichtsschreibung hatte die Funktion, zu zeigen, wie sich Maos Ideen als richtig erwiesen und sich gegen falsche Ideen durchgesetzt hätten.

Das funktioniert gut für die Zeit bis 1949, also bis zum Sieg der Partei und der Gründung der Volksrepublik. Danach kann man nicht mehr behaupten, dass die Partei von einem Sieg zum ­anderen ging. 1981, nach dem Beschluss über Reform und Öffnung und dem Gerichtsverfahren gegen die Viererbande (eine dem linken Flügels der Partei angehörige Gruppe, die im Zuge der Kulturrevolution an Einfluss gewann und die Nachfolge Maos antreten wollte, Anm. d. Red.), verabschiedete die Partei eine neue Resolution über ihre Geschichte; die erste war 1945 veröffentlicht worden. Darin setzt sie sich auch mit den schwierigen Vorfällen der Zeit nach 1949 auseinander – dem sogenannten Großen Sprung nach vorn, der Hungersnot, der Kulturrevolution.

Wie werden diese Ereignisse bewertet?

Die Resolution ist kritisch der Partei und der Kulturrevolution gegenüber. Es wird beschrieben, wie die Partei nach dem richtigen Modell zum Aufbau des Sozialismus in China suchte, und festgestellt, dass sie nicht immer erfolgreich war, weil sogenannter Linksradikalismus in der Partei dazu geführt habe, dass beispielsweise beim Großen Sprung nach vorn Entscheidungen gefällt wurden, von denen man im Nachhinein weiß, dass sie nicht zum Vorteil der Bevölkerung waren.

Was war der Zweck der Resolution?

Die Machthaber von 1981 waren mehrheitlich Kader, die in der Kulturrevo­lution als nicht echte Marxisten angegriffen wurden, aber nach Maos Tod in die Partei zurückgekehrt waren. Mit der Resolution wollten sie die stärksten Unterstützer von Maos Ideen marginalisieren und sich selbst an die Spitze der Partei setzen.

Wie hat sich die chinesische Geschichtsschreibung seit dem Ende des Kalten Kriegs verändert?

Zwischen Maos Tod 1976 und Xi Jinpings Amtsantritt als Staatspräsident 2013 hat sich das, was wir Zeitgeschichtsschreibung nennen würden, in China außerordentlich stark entwickelt. Mit dem Zusammenbruch der Sowjetunion gab es plötzlich Zugriff auf die sowje­tischen Archive ohne staatliche Kontrolle. Das Monopol der KP über die Quellen zu ihrer Geschichte wurde durchbrochen, weil man jetzt zum Beispiel Telegramme lesen konnte, die Mao und Stalin ausgetauscht hatten.

Es wurden dann in China historische Institute gegründet, die sich teils dadurch finanzierten, die Einsicht in historische Quellen möglich zu machen. Dazu kamen historische Institute an renommierten chinesischen Universitäten, die eigene Archive anlegten. Das hatte es früher nie gegeben. Wer vorher ein Buch zur Parteigeschichte schreiben wollte, hatte nur Zugang zu den von der Partei veröffentlichten Quellen.

Wie wirkten sich diese Veränderungen aus?

Zeitgeschichte entwickelte eine ungeheure Attraktivität, denn die Leute ­erfuhren erstmals, was eigentlich in den Quellen steht. Es wurden viele ­Bücher geschrieben, Bücher etwa über den Koreakrieg wurden millionenfach gelesen.
Zu Beginn des 21. Jahrhunderts begannen Wissenschaftler dann, in lokale Archive zu gehen. Dort gab es zum Beispiel Aufzeichnungen über Todeszahlen in den von der Partei offiziell ­geleugneten Hungersnöten oder Anweisungen Maos aus der Zeit der Kultur­revolution. Plötzlich wussten diese Wissenschaftler mehr über die Geschichte der Partei als die braven Parteihistoriographen, die immer nur nach Maß­gabe der Parteiquellen gearbeitet hatten. Nicht nur das: Sie schrieben auch noch negative Dinge über die Partei, beispielsweise dass sie für Hungersnöte verantwortlich war.

Wie reagierte die Partei darauf?

Offenbar wollte die KPCh ihr 100jähriges Jubiläum als Gelegenheit nutzen, um alles wieder geradezurücken. Seitdem Xi Jinping 2012 die Parteiführung übernommen hat, hat ein großes Aufräumen begonnen. Die unabhängigen historischen Institute sind nach und nach geschlossen worden, die Historiker wurden in den Ruhestand versetzt oder schreiben jetzt wieder über die Qing- oder Ming-Zeit. Auch die Ar­chive sind geschlossen worden. So hat die offizielle Parteigeschichtsschreibung wieder ihr Monopol zurückerhalten, und die Gedanken der Menschen über die siegreiche Parteigeschichte können vereinheitlicht werden.

Anlässlich des 100jährigen Bestehens der Partei wurde eine neue offizielle Parteigeschichte veröffentlicht. Wie unterscheidet die sich von den bisherigen?

Xi Jinping hielt zuvor an den heiligen Stätten der Parteigeschichte eine Reihe von historische Reden. Für die Zeit vor 1949 machte er keine großen Unterschiede zur alten Parteigeschichtsschreibung, es geht darum zu zeigen, dass Mao die richtige Linie vertrat. Aber für die Zeit nach 1949 hat er die bisherige Geschichtsauffassung mo­difiziert. Die Resolution von 1981 lief darauf hinaus, die Kulturrevolution zu »verneinen«, und Mao wurde zumindest insofern eine Mitschuld an der Linksabweichung der Kulturrevolution gegeben, als er die theoretische Grundlage für sie gelegt habe. In der heutigen Parteigeschichte werden Mao und seine Theorie entlastet.

Was ist die Absicht dahinter?

Man versucht mit so einer Parteigeschichte immer, bestimmte Koalitionsbildungen in der Partei möglich und andere unmöglich zu machen. 1981 sollten die maoistischen Kräfte margina­lisiert werden. Mittlerweile ist das Kräfteverhältnis anders, seit Xis Machtübernahme ist der Einfluss der maoistischen Kräfte gewachsen. Eine jüngere Generation von Maoisten reklamiert eine andere Darstellung der Kulturrevolution, damit auch die Parteigeschichte zeigt, dass sie als koalitionsfähige Gruppe in der Partei angesehen werden.

Was für ein Selbstverständnis der Partei drückt sich in der neuen Parteigeschichte aus?

Außenpolitik nimmt außergewöhnlich viel Platz ein. Die bisherigen Parteigeschichten handelten vor allem von der Partei selbst und sollten in die Partei wirken. Die jetzige Parteigeschichte unterscheidet gar nicht mehr zwischen Partei und Staat, sondern will zeigen, dass die kommunistische Partei als einzige politische Kraft den chinesischen Traum verwirklichen kann, die Wiedergeburt der chinesischen Nation nach ihrem Niedergang.

Was ist damit gemeint?

Die Erzählung reicht vom 19. Jahrhundert, in dem China seine führende Stellung in Ostasien und in der Welt verlor, bis zu dem Punkt, an dem es unter Führung der Partei wieder die führende Stellung in Ostasien einnimmt. Diese Erzählung richtet sich nicht nur an die Parteimitglieder, sondern die ganze Bevölkerung soll sie verinnerlichen.

Wie wird diese Erzählung der Bevölkerung vermittelt?

Anfang des 21. Jahrhunderts wurde ich manchmal belächelt, weil ich mich für Parteigeschichtsschreibung interessierte, die an den Universitäten kaum noch eine Rolle spielte. Aber seit Xi Jinping regiert, kämpft er gegen den so­genannten historischen Nihilismus. Politischer Unterricht, inklusive Partei­geschichte, wurde an den Universitäten wiedereingeführt, Kinder singen Lieder über die Parteigeschichte und lernen sie in der Schule. Dazu gibt es Filme, Zeichentrickfilme und Mangas. Auch im Internet, auf Youku, dem chinesischen Youtube, kann man viele ­Dokumentarfilme sehen.

Drückt sich in der heutigen Parteigeschichtsschreibung auch ein wachsender Nationalismus aus?

Ja, das kann man so sagen, wenn die Parteigeschichte als Geschichte des Wiedererstarkens der chinesischen Nation erzählt wird. Die Zeit des Kolonialismus, angefangen beim Ersten Opiumkrieg (1839–1842, Anm. d. Red.), wird als Unterdrückung und Schande dargestellt, die ab 1949 Schritt für Schritt überwunden wurde, bis China seine zentrale Stellung in der Welt wiedererlangte. Dieser Erfolg soll zeigen, dass die Kommunistische Partei zu Recht herrscht, auch wenn ihr im Laufe ihrer Herrschaft einige Fehler unterlaufen sein könnten.



Männlich und gebildet

Der Berliner Think Tank Mercator Institute for China Studies hat anlässlich des 100. Geburtstags der Kommunistischen Partei Chinas statistische Daten über die Partei gesammelt. Stand 2019 sind 91,9 Millionen Menschen Mitglied in der Partei, das entspricht 6,6 Prozent der chinesischen Bevölkerung. 28,9 Prozent der Mitglieder sind über 60 Jahre alt, knapp ein Viertel ist unter 30. Jedes Jahr stellen fast 20 Millionen Menschen einen Aufnahmeantrag, doch Kandidaten müssen ein langjähriges Bewerbungsverfahren und Schulungen durchlaufen. Nur knapp die Hälfte der Anwärter wird aufgenommen.

Seit 2012 gelten noch strengere Auswahlkriterien, seither sind erstmals mehr Akademiker (2019 waren es 50,7 Millionen) als Arbeiter und Bauern (34,8 Millionen) Mitglied. Nicht geändert hat sich, dass Frauen mit 27,9 Prozent in der Minderheit sind. Die Führungskader der Partei waren schon immer zumeist Männer, nur ein Mitglied des 25köpfigen Politbüros ist eine Frau. ps