Der Vorstoß der USA zur Patentfreigabe für Covid-19-Impfstoffe stößt auf Widerstand

Der Kampf um die Impfstoffe

Der Vorschlag des US-Präsidenten Joe Biden, die Patente für Covid-19-Impfstoffe freizugeben, stößt auf Widerstand, unter anderem aus Deutschland

»Joe Biden lässt die EU aussehen wie die ›bad guys‹«, stellte die Nachrichtenseite Politico fest. In dieser Hinsicht war dem US-Präsidenten ein Coup gelungen, als er vorige Woche bekanntgab, die schon lange von Ländern wie Indien und Südafrika erhobene Forderung nach einer vorübergehenden Freigabe von Patenten für Covid-19-Impfstoffe zu unterstützen. Zuletzt war es zu Spannungen mit Indien gekommen, weil die USA seit Monaten weder Impfstoffe noch für deren Herstellung benötigte Rohstoffe an andere Länder exportierten.

Donald Trump hatte diesen impfnationalistischen Kurs eingeschlagen, Biden führte ihn fort – während fast die Hälfte der in der EU hergestellten Impfstoffe exportiert wurde. Viel Kritik am Impfnationalismus hat es in den USA bisher nicht gegeben, zu heftig wütete die Pandemie dort noch Anfang des Jahres. Doch inzwischen hat fast die Hälfte der US-Bevölkerung zumindest die erste Impfdosis erhalten. Schon bald werden die USA Hunderte Millionen überflüssige Impfdosen zur Verfügung haben. Und so mehrten sich seit einigen Wochen in den USA prominente Stimmen, die eine Freigabe der Patente unterstützen.

In Deutschland war diese Forderung bislang eher eine linke Außenseiterposition. Hier dominierte in der Öffentlichkeit die Kritik am »Impfdesaster« der EU. In dieser schwang – bei aller berechtigten Kritik – auch eine wohlstandschauvinistische Empörung darüber mit, dass Deutschland beim Impfen nicht ganz vorne lag, wie es sich gehört. Doch nun, da die Impfkampagne schneller vorankommt, zeigt sich immer deutlicher, dass die Europäer, was Impfstoff angeht, vor allem eines sind: enorm privilegiert. Die EU rechnet schon im Juli mit einer Impfquote von 70 Prozent, die 92 ärmsten Ländern werden das voraussichtlich erst 2023 erreichen – frühestens. Schon im Sommer kündigt sich in den reichen Ländern eine weitgehende Rückkehr zur Normalität an. Im Rest der Welt dagegen wird es auch weiterhin zu katastrophalen Covid-19-Ausbrüchen kommen, wie derzeit in Indien und Brasilien.

Dass in reichen Länder zuerst geimpft wird, während arme Länder auf äußerst bescheidene Hilfsprogramme wie Covax angewiesen sind, ist in der kapitalistischen Weltordnung angelegt, es gilt weithin als selbstverständlich. Freilich war immer wieder zu lesen, dass die reichen Länder ein ureigenes Interesse haben, dass auch der Rest der Welt geimpft wird, schon allein um neue Mutationen zu verhindern. Auch wird die Pandemie, wenn sie weiter wütet, die weltweite wirtschaftliche Erholung verzögern. Arme Länder müssen einen hohen wirtschaftlichen Preis bezahlen, um die Pandemie einzudämmen, und ihnen fehlen die Mittel für umfassende Konjunkturpakete, wie sie die EU und die USA implementiert haben. Auf die Pandemie folgen vielerorts wirtschaftliche und soziale Krisen, womöglich auch politische Unruhen, wie derzeit in Kolumbien.

Die reichen Länder haben also durchaus ein Eigeninteresse, den Rest der Welt möglichst schnell mit Impfstoffen zu versorgen. Die Frage ist nur, welchen Preis sie dafür zu zahlen bereit sind. In Deutschland scheint die Antwort schon festzustehen. Während sich die EU-Kommissionspräsidentin Ursula von der Leyen zumindest offen für eine Patentfreigabe zeigte, und Emmanuel Macron sagte, er sei »absolut dafür,« stellt sich die Bundesregierung bislang klar dagegen.

»Der bedrohte Boom der deutschen Pharmapioniere« lautete die Überschrift eines Kommentars zu Bidens Patentvorstoß bei Spiegel Online. Mit Biontech und Curevac stehen zwei deutsche Firmen an der Spitze der Entwicklung von mRNA-Impfstoffen. Deshalb macht man sich hierzulande Hoffnung auf einen deutschen Pharma­boom. Die deutsche Pharmaindustrie könne in der »Weltliga« mitspielen, meinte Gesundheitsminister Jens Spahn schon voriges Jahr, als er zu Gast beim »Verband Forschender Arzneimittelhersteller« war. Doch »nun ist ihr Erfolg in Gefahr«, warnte Spiegel Online vor der möglichen Patentfreigabe.

Die Impfstoffentwicklung von Biontech und Curevac wurde mit öffentlichen Geldern gefördert, auch die Grundlagenforschung für die mRNA-Technologie ist seit Jahrzehnten staatlich finanziert worden. Impftechnologien sind das Ergebnis gesellschaftlicher Arbeit, im Kapitalismus aber werden sie zu »geistigem Eigentum«. Der Wohlstand von Ländern wie Deutschland oder den USA fußt zu einem wesentlichen Teil auf dem technologischen Vorsprung ihrer Konzerne. Dieser wird gemeinhin durch internationale Handelsregeln verteidigt, deren Zweck nicht zuletzt darin besteht, Technologietransfer zu verhindern. Die Pharmaindustrie fürchtet, dass eine Patentfreigabe langfristig ihr gesamtes Geschäftsmodell untergraben könnte.

Die Verteidiger der Patente argumentieren zudem, dass schon jetzt die weltweiten Produktionsmöglichkeiten ausgeschöpft seien. Eine Patentfreigabe würde keine zusätzlichen Kapazitäten schaffen, es komme nämlich auf die Verfügbarkeit von Produktionskapazitäten und Know-how an. Richtig daran ist, dass eine bloße Patentfreigabe nur ein erster Schritt sein kann. Zusätzlich müsste ein Technologietransfer erzwungen werden – zum Beispiel indem die Patenthalter verpflichtet werden, Lizenzen an Produzenten in der ganzen Welt zu vergeben und diese dann auch beim Aufbau der Produktion zu unterstützen. Darum wird es bei den kommenden Verhandlungen im Rahmen der Welthandelsorganisation gehen. Noch ist nichts entschieden.

Wie eine solche globale Industriepolitik aussehen könnte, zeigt ein Blick zurück ins Jahr 2006. Damals unterstützte das US-Gesundheitsministerium insgesamt 13 Länder beim Aufbau einer eigenen Produktion von Impfstoffen gegen die Vogelgrippe. Die US-Regierung teilte nicht nur das Rezept für die Impfstoffe, sondern half auch bei der Einrichtung von Impfstofffabriken. Teil des Programms war eine vollausgerüstete Produktionsstätte an einer öffentlichen Universität in North Carolina, in der Fachkräfte aus der ganzen Welt in der Herstellung von Impfstoffen ausgebildet wurden. Ein solches Programm wäre auch heute möglich. In seinen Dimensionen müsste es freilich ungleich größer sein – genauso wie es auch die Geschäftsinteressen sind, die ihm im Wege stehen. Sollte es dennoch dazu kommen, läge das wohl nicht zuletzt an den außenpolitischen Ambitionen der US-Regierung. Die USA wollen »das 21. Jahrhundert gewinnen« und ihre Führungsrolle gegen China verteidigen, sagte Joe Biden kürzlich bei seiner ersten Rede vor dem US-Kongress. Vielleicht werden sich die Vereinigten Staaten das auch etwas kosten lassen.