Die Ermordung von Heimbewohnern in Potsdam ist kein Einzelfall

Das Erschrecken der Ahnungslosen

In der vergangenen Woche wurden vier pflegebedürftige Menschen in einer diakonischen Einrichtung in Potsdam ermordet. Die Reaktionen auf die Tat zeigen, wie sehr Zwang und Gewalt den Alltag in derartigen Pflege- und Wohnprojekten bestimmen.
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Fassungslosigkeit war ein Wort, das dieser Tage mehrfach zu hören war. In Potsdam hatte am vergangenen Mittwoch eine 51jährige Pflegerhelferin mutmaßlich vier Menschen in einem Wohnheim ermordet, eine Person hat schwer verletzt überlebt. Die dringend Tatverdächtige wurde in eine Psychiatrie gebracht, wo ihre Schuldfähigkeit überprüft wird.

Wie die Brandenburger Landesregierung dem RBB mitteilen ließ, sei noch am Tag vor der Tat das Thusnelda-von-Saldern-Haus der Oberlinhaus-Lebenswelten gGmbH von der zuständigen Aufsichtsbehörde kontrolliert worden. Dabei seien keine Versäumnisse aufgefallen. Das heißt wohl so viel wie: Die Tat hätte sich nicht verhindern lassen. Folglich muss man wohl damit rechnen, ermordet zu werden, wenn man in einer solchen Einrichtung lebt. »Wir sind fassungslos, weil wir diese Tat in keiner Weise verstehen können«, sagte Matthias Fichtmüller, der leitende Theologe im diakonischen Oberlinhaus.

Diese Fassungslosigkeit ist insofern erstaunlich, als es nicht der erste Fall in Deutschland von tödlicher Gewalt gegen Menschen in Plegeeinrichtungen ist. Der Pfleger Niels Högel wurde 2019 vom Landgericht Oldenburg zu lebenslanger Haft verurteilt, weil er mindestens 85 sich in seiner Obhut befindliche Menschen ermordet hatte. Im Oktober vergangenen Jahres stand in München ein Aushilfspfleger vor Gericht, weil er drei Personen mit Insulin getötet hatte; auch hier lautete das Urteil: lebenslänglich. Im Juni 2018 hatte das Landgericht Frankenthal eine Altenpflegerin sowie zwei Hilfskräfte zu ebenfalls lebenslänglicher Haft verurteilt, weil sie zwei Bewohnerinnen getötet hatten. In allen drei Prozessen stellten die Richterinnen und Richter eine besondere Schwere der Schuld fest.

Die Liste ließe sich fortsetzen. Es ist anzunehmen, dass die Dunkelziffer hoch ist. Karl Heinz Beine, Chefarzt der Klinik für Psychiatrie, Psychotherapie und Psychosomatik in Hamm, hatte im Anschluss an eine Befragung von in der Pflege Beschäftigten in einem Interview mit dem Informationsportal Bibliomed 2017 gesagt, dass Tötungen »nicht so selten« seien »wie bisher angenommen«.

Das liegt auch auf der Hand. Heime und Krankenstationen sind Orte, an denen auch gestorben wird; nicht jeder Todesfall wird ­daraufhin untersucht, wie er genau zustande gekommen ist. Außerdem besteht ein großes Machtgefälle zwischen Pflegenden und ­Gepflegten. Es waren in der Berichterstattung auch einige Stimmen zu hören, die beteuerten, dass nicht alle Pflegenden zu Gewalt neigten; das jedoch verkennt den Umstand, dass die Pflege immer auch eine Form von Zwang und Gewalt darstellt. Körperliche und psychische Grenzüberschreitungen sind essentieller Bestandteil des Berufes: Sie können notwendig sein, um größeren Schaden von den Bewohnerinnen oder Patienten abzuwenden, Zwangscharakter haben sie trotzdem.

Zwang und Gewalt sind in den Pflegeheimen nicht allein Ausdruck individuellen Fehlverhaltens, sie haben eine strukturelle Komponente. Tagesabläufe sind ebenso vorgegeben wie die Mahlzeiten, auch den Mitbewohnerinnen und -bewohner sowie dem Personal kann man nicht entgehen. Auch wenn inzwischen die größtmögliche Selbstbestimmung zur Norm in der Pflege erhoben wurde, kann dieses Ansinnen nicht kaschieren, dass in Heimen Menschen in eine bestimmte Struktur gezwungen werden. Aufgabe der Pflegenden ist es, darauf zu achten, dass dieser Zwang möglichst sanft erfolgt. Darüber hinaus vertuschen die Einrichtungen gerne, die zum Alltag gehörenden Übergriffe werden nur selten thematisiert, ebenso wie der oft dramatisch schlechte Personalschlüssel und die allgegenwärtige Zeitknappheit. Beine sagte im selben Interview: »Wir leben in einem Gesundheitssystem, in dem der offene Umgang mit Fehlern dadurch erschwert ist, dass es fast schon ein Wettbewerbsnachteil ist, wenn eine Klinik eine offene Fehlerkultur betreibt.« Das gilt ebenso für Heime.

Ermöglicht wird dieser Umstand durch das Wegsehen der Gesellschaft. Was in den Heimen passiert, interessiert die Öffentlichkeit solange nicht, bis es zu einer »Tragödie« wie der in Potsdam kommt. Pflegende werden idealisiert und heroisiert, weil sie der Gesellschaft die Last abnehmen, mit hilfsbedürftigen Menschen umzugehen. Entsprechend werden dann auch entschuldigende Erklärungen gesucht, um die Tat in Potsdam in milderem Licht erscheinen zu lassen. In einem Beitrag des RBB nannte der Polizeipsychologe Gerd Reimann die seiner Ansicht nach möglichen Gründe: »Als Erstes natürlich schwere Konflikte zwischen Täter und den Opfern. Zum Zweiten natürlich auch eine dramatische Überforderung des Täters in dieser Situation. Es kann aber auch sein, dass eine Motivation dahinter steht, die Leute zu erlösen von Leiden, die vielleicht sogar unheilbar sind.«

Diese Motive haben auch jene Pflegenden vorgebracht, die nach 1945 wegen ihrer Beteiligung an der systematischen Ermordung von Menschen mit Behinderungen im Rahmen der Aktion T4 angeklagt wurden, wie in dem 2004 veröffentlichten Band »Ich tat nur meinen Dienst« von Gerhard Fürstler und Peter Malina nachzulesen ist. Die offensichtlichste Erklärung, dass nämlich ein sogenanntes hilfsbedürftiges Leben weniger wert sei als ein sogenanntes normales, sprechen nur Aktivisten und Aktivistinnen offen aus. Diese werden aber kaum gehört. Es bedarf einer größeren Öffentlichkeit für Menschen mit Behinderung, damit sie von ihren Erfahrungen berichten und die entmenschlichende Praxis beenden helfen können, die sie im System erfahren. Daneben braucht es das, was Beine »Fehlerkultur« nennt, und eine breite Diskussion darüber, unter welchen Bedingungen die Ausübung von Zwang gerecht­fertigt ist. Wer diese Tat als einen Einzelfall betrachtet, der psychologisch erklärt werden kann, leistet hingegen weiteren Einzelfällen Vorschub.