Spätmoderne Freizügigkeit
Im Januar geisterte eine merkwürdige Meldung durch die queeren Medien: Der 19jährige Brite Cameron Cook nahm in einem Video mit seiner Mutter Stellung zu Anfeindungen in sozialen Medien. Es ging um die Tätigkeit des jungen Mannes: Er verdient sein Geld als »Jack the Lad« mit pornographischen Fotos und Videos, die er seinen fast 50 000 Followern auf der Online-Plattform Onlyfans gegen Bezahlung anbietet. Grund genug für einige Kommentatoren, sich über seine Arbeit zu echauffieren und nachzufragen, was seine Mutter wohl von all dem halte.
Die Antwort der Mutter des prominent Gewordenen ist aber nicht weniger merkwürdig als die Häme der Kritiker: Sie äußerte, stolz zu sein auf ihren Sohn und insbesondere auf dessen großen Penis, schließlich habe sie ihn zur Welt gebracht und wünsche deshalb gar eine Beteiligung an seinem finanziellen Gewinn. Das Video schließt mit einem kreischenden Verweis auf den Flachbildschirm und den Führerschein, den der junge Mann seiner Mutter durch seine Sexarbeit bereits habe finanzieren können. Die virtuelle LGBT-Bubble reagierte enthusiastisch auf die sexpositive Familienaufstellung des jungen Pornostars und vergab die Bestnote in Sachen Toleranz: Fortschrittlicher könne eine Mutter wohl kaum sein.
In der ritualisierten Begeisterung, die einmal mehr den angeblich empowerten Aufstieg eines Shitstorm-Opfers begleitet, geht dabei freilich eines unter: Die groteske Online-Show von Mutter und Sohn zeugt vor allem auch von der völligen Missachtung generationeller (Scham-)Grenzen, die mit Verve überschritten werden. Fernab der vorschnellen Pride-Rhetorik fällt vor allem auf, dass das Schauspiel als ein warenfetischistisches verstanden werden muss, schließlich ist es die verlockende Anstößigkeit eines seine Haut zu Markte tragenden Jungen, die die Szene überstrahlt.
Eine ähnliche Verkehrung stellte im vergangenen Jahr Jacob Bernstein in einem Artikel in der New York Times fest, in dem er die These vertrat, die Plattform Onlyfans bringe nicht weniger als eine Revolutionierung der Sexarbeit und des Pornos. Nicht nur ermögliche es die Plattform, unabhängig von Pornolabels und Werbekunden pornographisches Material zu verbreiten, sondern sie lasse dabei vor allem auch die Grenzen zwischen Produzenten und Konsumenten verschwimmen.
Mit Blick auf die Entwicklung der Pornoindustrie popularisieren sich im Erfolgskonzept von Onlyfans die spätestens seit den neunziger Jahren immer wichtiger werdenden Bedürfnisse der Konsumen-tinnen und Konsumenten nach Echtheit.
In der Tat weist der in Großbritannien ansässige, seit vier Jahren existierende Webdienst einige Alleinstellungsmerkmale auf. Die creators sind nicht nur, aber häufig bekannte Influencer auf Instagram oder anderen sozialen Medien und bieten auf Onlyfans Nacktbilder und pornographische Videos von sich an. Zugang dazu erhält, wer ein monatliches Abo abschließt, den Preis dafür legen die creators selbst fest, er schwankt zwischen zehn und 20 Euro im Monat. Wer mehr als die für Abonnenten angebotenen Fotos und Videos sehen will, kann auch Einzelbeträge senden, Wünsche einreichen und bei ausreichender Bezahlung und Einwilligung des creator auch persönliche Medienprodukte für sich alleine erhalten. Diese Bestellungen können über privaten Chat mit dem oder der Anbietenden verhandelt werden.
Für den Erfolg des Konzepts sprechen die bloßen Zahlen: Der Spiegel berichtete, die Plattform verfüge mittlerweile über 85 Millionen registrierte Nutzerinnen und Nutzer, von denen eine halbe Million selbst Inhalte anböten, 4 000 davon lebten in Deutschland. Die steuerpflichtigen Einnahmen der Bild- und Videoproduzenten bestehen aus 80 Prozent der monatlichen Abo-Beiträge, zusätzlich zu Einzelüberweisungen und Trinkgeld. Der Wirtschaftsnachrichtenagentur Bloomberg sagte der Onlyfans-Gründer Tim Stokely, er erwarte für das Jahr 2020 zwei Milliarden US-Dollar Umsatz, wovon 400 Millionen seinem Unternehmen zukommen würden. Die digitale Sexindustrie wurde mit Onlyfans offensichtlich um einen einflussreiches und finanzstarkes Unternehmen ergänzt.
Im Erfolgskonzept von Onlyfans popularisieren sich die spätestens seit den neunziger Jahren immer wichtiger werdenden Bedürfnisse der Pornokonsumentinnen und -konsumenten nach Echtheit. Geschlechterforscher wie John Mercer zeigen in ihren Untersuchungen zu schwuler Pornographie auf, wie im Genre des Amateurpornos die Inszenierung und Ästhetisierung von Echtheit und Authentizität im Mittelpunkt steht und der Abgrenzung vom stereotypisierenden und im Extremfall als »Plastik-Porno« bezeichneten Mainstream dient. Joseph Brennan, der der Fachzeitschrift »Porn Studies« nahesteht, verweist in seinem Artikel »The ›gonzo aesthetic‹ in gay porn: Fraternity X and Sketchy Sex« darauf, dass die als Amateurproduktionen vermarkteten Pornos die Konventionen des Hochglanzes, der Genauigkeit und der sexuellen Choreographie hinter sich ließen. Dies geschehe zugunsten wackliger Kameraführung und alltäglicher Accessoires und Kommunikation, die Privatheit und Spontanität suggerieren sollen.
Die Konsumenten des von Pornolabels angebotenen klassischen amateur porn bleiben jedoch in der gewohnten passiven Rolle des Konsumenten, der mit dem Versprechen des Zugangs zu echter Lust und authentischem Sex gelockt wird. Demgegenüber kommt seit Entstehen von Plattformen wie der Livestreaming-Website Cam4 Pornokonsumenten immer häufiger eine aktive und partizipierende Rolle zu. Cybersexuelle Begegnungen wie Camsex, Sexting, Videochats oder Chatroulette kennzeichnet vor allem auch wechselseitige Stimulation: Die Beteiligten zeigen und verdecken sich und kommunizieren im Chat oder durch Gesten über ihre Wünsche.
Besonders beeindruckend dürfte für viele Nutzer der nicht (gänzlich) durch Bezahlschranken begrenzten Cybersex-Portale die Unkalkulierbarkeit der anonymen Begegnungen sein. Auf den teilweise kostenfreien Seiten der Videosex-Anbieter, die neben denjenigen existieren, die für Geld private Shows anbieten, geben allerlei bizarre Performer jeden Geschlechts nicht nur Einblicke in ihre exhibitionistischen und fetischistischen Gelüste, sondern auch in ihre häufig nicht minder irritierende Wohnungseinrichtung oder ihren seltsamen Musikgeschmack. Der kurzzeitige, voyeuristische Eintritt in diese digitalen DIY-Porno-Spelunken dürfte jener ordinären Atmosphäre entsprechen, die man dem alten Rotlichtviertel und der Pornographie von gestern zuschreibt.
Am Aspekt der Kommerzialisierung lässt sich das entscheidend Neue am Internetaufsteiger Onlyfans ausmachen: Zum Nacktbild und zum Sexvideo dringt hier eben nicht jeder Interessierte durch, sondern nur der Fan, der auch bezahlen kann und will. Geboten wird der Kundin oder dem Kunden auch Neuartiges, denn zweifelsohne liefert Onlyfans eine in der Masse bisher ungekannte Möglichkeit zu individualisierter und personalisierter Pornographie.
Der Grund hierfür liegt vor allem in der Kommunikationstechnologie der Plattform. Die in anderen sozialen Medien Angehimmelten gewähren nicht nur intime und sexuelle Einblicke, sondern können sich auch zum persönlichen Gespräch zur Verfügung stellen. Nicht wenige creators berichten – jenseits der flüchtigen und zeitweisen Abonnements – von eingehenden Chat-Kontakten, die es ermöglichen sollen, eine Beziehung aufzubauen, die über das bloße Anschauen des pornographischen Materials hinausgeht. Dabei entstehen in einigen Fällen tatsächlich bezahlte Pornos, in denen die Phantasien verwirklicht und die Wünsche erfüllt werden, die sich zuvor beim Verfolgen des Online-Auftritts und schließlich im direkten Kontakt zur Darstellerin oder zum Darsteller entwickelt haben.
Das sind Aspekte, auf denen die deutschsprachige (kritische) Sexualwissenschaft regelmäßig insistierte. So bezeichnete Martin Dannecker das Chatten im Internet jüngst als »Fabrikationsstätte sexueller Träume« und Volkmar Sigusch konstatierte im Zuge seiner Theorie der Neosexualitäten und ihres narzisstischen Thrills gleich ein ganzes »globales E-Bordell«.
Mit Blick auf die öffentliche Diskussion über Onlyfans fällt jedoch ein Hang zur unhistorischen Herangehensweise auf, die leicht übersieht, dass es sexuelle Selbstdarstellung von Beginn des Internets an gegeben hat. Onlyfans stellt bei Weitem kein qualitativ neues Phänomen, sondern nur eine neue Plattform dar.
Wer bei Onlyfans vor allem das Potential der Egalisierung, der Enttabuisierung und des schnellen und einfachen Gelds sehen will, übersieht womöglich dessen plumpste Bedingung: die permanente Selbstvermarktung.
Offen bleibt die Frage, inwiefern dieser Webdienst für erotische Dienstleistungen Spezifisches aussagt über den Stand der Sexualität im Zeitalter, in dem er sich seiner Beliebtheit erfreut. Eine Antwort könnte im Nebeneinander von spätmoderner Sexualbegeisterung und neuer Prüderie liegen. Erotische Darstellungen oder auch nur simple Nacktheit werden aus sozialen Medien wie Facebook oder zuletzt Tumblr verbannt, die sexuellen Inhalte hinter der Paywall werden als Befreiung und Empowerment gefeiert – und bezahlt. Die Befürworterinnen und Befürworter von Onlyfans betonen vor allem die Möglichkeit, sich ohne viele Hürden eine relativ unkomplizierte Einnahmequelle zu verschaffen, die darüber hinaus selbstbestimmt und »empowernd« sei.
Wer aber bei Onlyfans vor allem das Potential der Egalisierung, der Enttabuisierung und des schnellen und einfachen Gelds sehen will, übersieht womöglich dessen plumpste Bedingung: die permanente Selbstvermarktung, die die eigene Sexualität zur Ware macht und dabei ganz sicher keine mühelose Arbeit darstellt, die aber in der neoliberalen Plattformökonomie häufig als solche erscheint. Die creators von Onlyfans jedoch müssen ihre Datenbank pflegen, sich immer wieder neue Settings für die Szenen überlegen und ihre Profile bei sozialen Medien betreuen.
Hinsichtlich eines solchen Geschäftsmodells und seiner Konsequenzen stellen sich weitere Fragen: Sind die Sexpartnerinnen und Sexpartner in den Clips der creators zugleich deren Angestellte, erhalten sie einen Lohn? Trägt das (bezahlte) Zurschaustellen sexueller Lust, wie man in Anlehnung an Robert Pfallers Gedanken über Postsexualität und Öffentlichkeit sagen könnte, zu einer Intimisierung oder einer Privatisierung des Internets bei? Untergraben die neuen Plattform-Selbständigen – parallel zur Entwicklung der sogenannten Sharing Economy in anderen Branchen – eine tragfähige gewerkschaftliche Organisierung und den Arbeitsschutz in der Sexarbeit, wo beides zum Schutze aller Beteiligten bitter nötig wäre?
Die bloße Skandalisierung sexueller Dienstleistungen, die nicht selten einer moralischen Verurteilung der Beteiligten und ihrer sexuellen Bedürfnisse gleichkommt, verfehlt ihrerseits einige entscheidende Punkte. Auf Onlyfans weicht nicht nur die sexuelle Spielwiese des Internets dem erotischen Ladenlokal virtueller Ich-AGs. Es kommt dabei auch zum Ausdruck, wie sehr sexuelles Begehren in virtuellen Räumen und zwischen analogen und virtuellen Räumen mäandert und es dabei zu permanenten cybersexuellen Dialogen kommt. Fortwährend werden sexuelle Inhalte geschaffen, getauscht und vermittelt.
Die erotischen Darstellungen zeigefreudiger User erfahren in den sozialen Medien vermehrt Zensur, werden vorschnell als Belästigung diskreditiert oder, wie im Falle von Onlyfans, nur gegen Bezahlung zugelassen – während cyberkriminelle Netzwerke häufig unbehelligt und unbestraft agieren können. Würde die unentwegte globale Organisation schwerer sexueller Verbrechen im und über das Internet schärfer verfolgt und unterbunden, könnte die cybersexuelle Wirklichkeit pornographischer Amateure allerdings ziemlich geil und grenzenlos sein. Zum jetzigen Zeitpunkt hat sie sich durch Onlyfans vor allem weiter kommerzialisiert und professionalisiert.
Das bedeutet auch, dass man weiterhin, wie das Beispiel von »Jack the Lad« zeigt, die Eltern ertragen muss, die an ihren Sprösslingen nichts Besseres anzupreisen haben als das Aussehen ihrer Geschlechtsorgane und den Gewinn, den sie durch deren Vermarktung erwirtschaften. Bei aller Lust bei und mit der cybersexuellen Produktion pornographischer Inhalte lässt sich an solchen Merkwürdigkeiten doch eines bestens nachvollziehen: Die Unbeholfenheit des spätmodernen Verhältnisses von Freizügigkeit und Prüderie hat auch mit der Illusion von Freiheit zu tun, die der Ware innewohnt.