Wie der türkische Präsident Erdoğan seine Macht zu erhalten versucht

Ein Sultan unter Stress

Der türkische Präsident Recep Tayyip Erdoğan fürchtet in der Wirtschaftskrise um seine Macht und besetzt wichtige Posten mit loyalen Funktionären.

Die jüngste politische Rochade in der Türkei fand zu später Stunde statt. In der Nacht auf den 20. ärz, ungefähr um Mitternacht, unterschrieb der tür­kische Präsident Recep Tayyip Erdoğan in seinem Palast ein Dekret, mit dem er den Leiter der türkischen Zentralbank, Naci Ağbal, ohne Begründung entließ. Dieser hatte am 18. ärz den Leitzins von 17 auf 19 Prozent erhöht, um der Inflation in der Türkei Einhalt zu gebieten.

Erdoğan vertrat lange die Position, dass man auf die Inflation nicht mit hohen Zinsen reagieren, sondern bei niedrigen Zinsen bleiben solle. Eine Zeit­lang schien er diese Ansicht aufgegeben zu haben. Ağbals Ab­setzung zeigt nun, dass er zu ihr zurück­gekehrt ist.

Erdoğan hat den beginnenden Auflösungserscheinungen seiner Bewegung weder ökonomischen Erfolg noch eine zündende neue Idee entgegenzusetzen.

Ağbal war von 2015 bis 2018 türkischer Finanzminister. Im November vorigen Jahres ernannte Erdoğan ihn zum Leiter der Zentralbank. Sein Nachfolger wird Şahap Kavcıoğlu, von 2015 bis 2018 Abgeordneter der regierenden Partei für Gerechtigkeit und Fortschritt (AKP) im türkischen Parlament.

Die Erhöhung des Leitzinses durch Ağbal war auf den Finanzmärkten positiv aufgenommen worden, seine über­raschende Absetzung löste einen Kurssturz aus. Die türkische Lira verlor zeitweise 16 Prozent an Wert gegenüber dem US-Dollar, am Morgen des 22. ärz musste die Börse in Istanbul kurz nach Eröffnung wegen vieler Verkäufe vorübergehend geschlossen werden.

Nicht zur Beruhigung der Märkte trug bei, dass der Leiter des Finanzbüros des Präsidenten, Göksel Aşan, in einem Fernsehinterview am selben Tag sagte: »Nur der Präsident weiß, wa­rum er den Chef der Zentralbank ausgewechselt hat.« Das Finanzbüro wurde vor zwei Jahren geschaffen, um den Präsidenten in Fragen des nationalen und internationalen Bankensystems zu beraten.

Am Dienstag voriger Woche entließ Erdoğan auch den stellvertretenden Leiter der Bank, Murat Çetinkaya, wieder ohne Begründung, wie um zu zeigen, dass er von nun an auch das geringste Anzeichen dafür, dass die ­Zentralbank unabhängige Entscheidungen trifft, nicht mehr dulden werde. Ausländische Investoren, auf die die Türkei angewiesen ist, sind entsprechend verunsichert und beginnen, ihr Kapital abzuziehen.

Die Wechselkurse sind in der Türkei nichts, was nur ein paar Banker inte­ressiert. Eine billige Lira ist zwar gut für die türkische Exportwirtschaft und auch für den Tourismus, aber viele Unternehmen sind in Fremdwährung verschuldet und bekommen Schwierigkeiten bei der Bedienung von Krediten. Zudem führen schwankende Kurse zu höheren Risikoaufschlägen, Kredite werden teurer. Mieten und Hypotheken werden in der Türkei wegen der Instabilität der Lira häufig in US-Dollar festgelegt. Hier und auch bei den Preisen für Gas und Benzin spüren viele Veränderungen der Wechselkurse sofort.

Hinter der Entlassung Ağbals steckt mehr als Uneinigkeit in der Währungspolitik, sondern auch ein kleines Familiendrama. Am 7. ovember vorigen Jahres hatte Erdoğan Ağbals Vorgänger als Leiter der Zentralbank, Murat Uysal, ebenfalls per Dekret entlassen. Am Tag darauf gab Erdoğans Schwiegersohn Berat Albayrak auf Instagram seinen Rücktritt als türkischer Finanzminister bekannt. Albayrak war mit Ağbal sowohl in ökonomischen Fragen uneins als auch persönlich zerstritten (Jungle World 47/2020). Es wurde kolportiert, Albayrak habe ein persönliches Gespräch mit seinem Schwiegervater gesucht, um die Einsetzung Ağbals zu verhindern, sei im Palast aber nicht zu Erdoğan vorgelassen worden. Dieser kommentierte Albayraks Rücktritt spät und ohne ein Wort des Bedauerns oder des Danks.

Doch in den vergangenen Wochen war so etwas wie ein Comeback Albayraks zu beobachten. Am 15. ebruar ­entließ Erdoğan den Leiter des Statistikinstituts der Türkei (TÜİK), Cahit Şirin; am 21. ebruar machte er Kürşad Dosdoğru zu dessen Nachfolger. Bereits am 3. ärz ersetzte er Dosdoğru durch Sait Erdal Dinçer, der dem Umfeld Albayraks zugerechnet wird.

Der neue Leiter der Zentralbank, Kavcıoğlu, steht Albayrak ebenfalls nahe. Als Kolumnist der regierungsnahen islamischen Zeitung Yeni Şafak (Neue Morgenröte) ließ er keine Gelegenheit aus, Albayraks Politik zu loben. Entgegen der Kritik, die er als Kolumnist an den Zinserhöhungen seines Vorgängers geübt hatte, verkündete er als neuer Leiter der Zentralbank, er werde den Leitzins oberhalb der Inflationsrate halten; diese lag im Februar im Vergleich zum Vorjahresmonat bei knapp 16 Prozent. Ob sich die Zinspo­litik unter Kavcıoğlu ändern wird oder nicht, sicher ist, dass Albayraks Leute im Aufwind sind. Erdoğan spricht inzwischen wieder in den höchsten Tönen von seinem Schwiegersohn.

Es spricht vieles dafür, dass Ağbal auch auf Betreiben eines Konglomerats regierungsnaher Unternehmerfamilien und ihrer Holdings entlassen wurde. Diese profitieren von staatlichen Aufträgen und unterstützen Erdoğan mit ihren Medien. Besonders wichtig für Erdoğan ist die Çalık Holding. Sie ist Eigentümerin der Mediengruppe Tur­kuvaz, zu der unter anderem die Tageszeitung Takvim (Kalender) und die ­Wochenzeitung Yeni Aktüel (Neue Nachrichten) gehören.

Albayrak war von 2007 bis 2013 Geschäftsführer der Çalık Holding. 2008 kaufte diese die einflussreiche Mediengesellschaft Sabah, zu der die gleichnamige Tageszeitung, Zeitschriften und Fernsehsender gehören; sie war zuvor von der türkischen Treuhandanstalt beschlagnahmt worden. Der Kauf sorgte für Kontroversen, weil er größtenteils durch Kredite finanziert wurde, die die staatlichen Banken Halkbank und Vakıfbank der Holding zu günstigen Kon­ditionen gewährt hatten. Damals war Albayrak zwar noch nicht Regierungsmitglied, aber bereits Schwiegersohn Erdoğans.

Wegen der anhaltenden Wirtschaftskrise in der Türkei probierte Erdoğan mit Ağbal einen anderen währungspolitischen Kurs. Doch die ­Inflationsrate sank nicht. Das gab den regierungsnahen Kapitalfraktionen die Chance, wichtige Posten zurückzuerobern.

Erdoğan und den mit ihm verbündeten Kapitalfrak­tionen geht es um Machterhalt. Der Sieg der oppositi­onellen Republikanischen Volkspartei (CHP) bei den Kommunalwahlen in ­Istanbul und Ankara 2019 (Jungle World 15/2019) hat gezeigt, dass Erdoğans AKP bei wichtigen Wahlen geschlagen werden kann – obwohl viele Medien den Präsidenten unterstützen und dieser großen Einfluss auf die Justiz sowie die Hohe Wahlkommission hat.

Dass Erdoğan oder seine AKP nach einer möglichen Wahlniederlage in die Opposition gehen, ist in Erdoğans Türkei nicht vorgesehen. Dafür hat dieser sich zu sehr als eine Art messianischer Führer stilisiert. Viele Gesetze sind auf ihn als Präsidenten zugeschnitten. Kaum denkbar, dass er seinen 2014 in Ankara eröffneten Palast und seine herausragende Position im Staat einfach einem Nachfolger überlassen würde.

Der Kolumnist und langjährige CHP-Politiker Oğuz Oyan schrieb in der linken Tageszeitung Bir Gün (Ein Tag), die AKP könne nicht »leben«, ohne zu regieren. Ihr islamisch-programmatischer Zusammenhalt sei nicht so stark, dass ihre Mitglieder ohne Zugang zu staatlichen Pfründen noch zusammen­hielten.

Ideologischer Kitt ist zwar vorhanden, doch reicht er allein nicht aus, um Erdoğans Macht zu festigen. Während in den arabischen Ländern der Islamismus eine Rückwendung zum vorgeblich goldenen Zeitalter der frühen Kalifen und dessen streng religiöser Ordnung darstellt, ist der Bezugspunkt in der Türkei das Osmanische Reich. Ein starker Sultan als Führer befriedigt diese Nostalgie bereits weitgehend und schmeichelt dem türkischen Nationalismus. Der Ersatzsultan muss sich nicht im gleichen Maße durch eine Rückkehr zum islamischen Recht beweisen wie andere islamistische Führer.

Auch treffen Versuche, die Modernisierung der Türkei rückgängig zu ­machen, auf Widerstand in der Bevölkerung. Islamisten, die wollen, dass Erdoğan weitere rückschrittliche Maßnahmen durchsetzt, gibt es und ihnen wird auch das eine oder andere Zugeständnis gemacht, doch sie sind Verbündete, die in ihrem Sektierertum schwer zu kontrollieren sind. Um sich ihre Loyalität zu sichern, müssen auch ihre Anführer aus dem staatlichen Topf alimentiert werden.

So droht auch Erdoğans Versuch zu scheitern, sich auf seine Bewegung zurückzuziehen, nachdem es ihm nicht gelungen war, die Wirtschaftskraft der Türkei dauerhaft zu steigern. Denn diese Bewegung zeigt bereits seit längerem Auflösungserscheinungen. Von Erdoğan enttäuschte Weggefährten sind aus der AKP ausgetreten und haben ­eigene Parteien gegründet, die für Erdo­ğans Basis grundsätzlich wählbar sind. Erdoğans ehemaliger Außenminister Ahmet Davutoğlu gründete vorver­gangenes Jahr die Zukunftspartei (GP), sein ehemaliger Wirtschaftsminister Ali Babacan voriges Jahr die Partei Demokratie und Aufschwung (Deva).

Erdoğan hat dem weder ökonomischen Erfolg noch eine zündende neue Idee entgegenzusetzen. Also besetzt er noch konsequenter als zuvor alle wichtigen Posten mit Leuten, die von ihm abhängig sind, von der Zentralbank über die Universitäten bis hin zum Offizierskorps.