Jörg Osterlohs Studie »Ausschaltung der Juden und des jüdischen Geistes. Nationalsozialistische Kulturpolitik 1920-1945«

»Wer deutschen Blutes ist«

Der Historiker Jörg Osterloh untersucht die »Ausschaltung der Juden und des jüdischen Geistes« aus Wissenschaft, Kunst und Medien durch die Nationalsozialisten in seiner gleichnamigen Studie. Die Entfernung der Juden aus dem Kulturleben war auch der Versuch, sie aus dem Bewusstsein der Bevölkerung verschwinden zu lassen.

Die »kulturelle Hegemonie« ist Antonio Gramsci zufolge eine wichtige Voraussetzung der Erlangung politischer Macht. In der Tat war die Kultur ein zentrales Kampfgebiet völkischer und antisemitischer Ideologen im 19. und 20. Jahrhundert. Der Historiker Jörg Osterloh, Wissenschaftlicher Mitarbeiter am Fritz-Bauer-Institut in Frankfurt am Main, widmet sich dem Thema in seiner Untersuchung »›Ausschaltung der Juden und des jüdischen Geistes‹. Nationalsozialis­tische Kulturpolitik 1920–1945«. Er zeigt darin, dass schon im Kaiserreich und der Weimarer Republik versucht wurde, Juden aus dem öffent­lichen und kulturellen Leben zu entfernen.

In der Einleitung zitiert Osterloh den Historiker Saul Friedländer, der in seinem Buch »Das Dritte Reich und die Juden« (1998) hervorhebt, dass das Kulturleben »möglicher­weise der sensibelste Bereich« der 1871 mit der Reichsgründung erlangten »Gleichstellung der Juden« gewesen sei. Sensibel deshalb, weil Musik, Literatur, Theater und bildende Künste seit dem späten 18. Jahrhundert »als das einigende Band der in Einzelstaaten zersplitterten deutschen Nation und als wichtiger Ausdruck von Deutschlands Größe« galten.

Vor allem antisemitische Gelehrte wie der Historiker Heinrich von Treitschke schürten den Hass auf Juden, indem sie behaupteten, diese kontrollierten Presse, Börse, Wirtschaft und Politik.

Juden gehörten nicht dazu. Sie waren »niemals völlig Teil der größeren Gesellschaften, in denen sie lebten; sie waren niemals völlig außerhalb dieser Gesellschaften«, schrieb Moishe Postone in seinem 1979 in deutscher Übersetzung erschienenen Aufsatz »Nationalsozialismus und Antisemitismus«. Sie wurden als »wurzellos, international und abstrakt angesehen«. Juden verkörperten das Nichtidentische (Theodor W. Adorno) und somit die Antithese zur homogenen Volksgemeinschaft. Allein ihre Existenz war eine Bedrohung für die völkische Ideologie. »In Deutschland (…) setzten die Antisemiten die Moderne schlechthin, die vielfäl­tigen kulturellen Entwicklungen, die sich von den Traditionen etwa in der bildenden Kunst oder in der Musik ­abgrenzten in Beziehung zu ›den ­Juden‹ und, nach Ende des Kaiserreichs, zur als ›Judenrepublik‹ geschmähten Weimarer Demokratie«, ergänzt ­Osterloh.

Die Entfernung der Juden aus den Theatern, Opern, Galerien, Univer­sitäten, Zeitungen und Verlagen, sowie später aus Rundfunk und Film, war auch der Versuch, sie aus dem Bewusstsein der Bevölkerung verschwinden zu lassen. Nichts sollte mehr an sie erinnern. Der christl­ich-religiöse Judenhass wurde dabei vom modernen Antisemitismus abgelöst, der nicht nur einer völkisch-rassistischen Ideologie folgte, sondern sich auch in der politischen Organisation antisemitischer Kräfte widerspiegelte.

Vor allem antisemitische Gelehrte wie der Historiker Heinrich von Treitschke, der auch für die antisemitische Nationalliberale Partei im Reichstag saß, schürten mit ihren Schriften den Hass auf Juden, indem sie behaupteten, diese kontrollierten Presse, Börse, Wirtschaft und Politik. Treitschkes fünfbändiges Hauptwerk »Deutsche Geschichte im 19. Jahrhundert« wurde zur Standardlektüre für Konservative, Deutschnationale und Rechtsextreme Akteure. »Die gängige Argumentation der Antisemiten lautete: Die fast vollständig ›verjudete‹, weil entweder im jüdischen Besitz befindliche oder wirtschaftlich von Juden abhängige Presse steuere nicht nur Politik und Wirtschaft, sondern sorge auch für eine schädliche und schändliche jüdische Dominanz im deutschen Kulturleben, die durch ihre ›rassefremden‹ und ›entarteten‹ Gedanken zu sittlichem und moralischem Verfall führe«, so Osterloh.

Der Autor geht in dem 645seitigen Buch chronologisch vor, ohne die Einordnung in die Gesamtentwicklung zu vernachlässigen. Osterloh zeigt detailliert, wie im Kaiserreich und in der Weimarer Republik unzählige Parteien, Vereine und Verbände entstanden, deren Ziel es unter anderem war, das »Deutschtum« zu stärken und den »jüdischen Einfluss« zu bekämpfen. Der Alldeutsche ­Verband, die Deutsche Konservative Partei, der Deutsch-Soziale Verein und der Deutschvölkische Schriftstellerverband leisteten neben anderen ihren Beitrag dazu, dass der moderne Antisemitismus weite Teile der Gesellschaft erfasste.

Besonders die zunächst konspirativ agierende Thule-Gesellschaft gilt als eine für den Weg ins »Dritte Reich« bedeutende Sammlungsbewegung. Sie bekämpfte alles, was in Deutschland nach dem Ende des Kaiserreichs 1918 für einen Neuanfang stand: die Republik, die demokratische Verfassung, das Frauenwahlrecht, die parlamentarische Regierung, Meinungsfreiheit und den »Kulturbolschewismus«. Ihr Gründer Rudolf von Sebottendorff sagte am 8. November 1918, einen Tag nach dem Sturz der bayerischen Monarchie, in einer Rede: »An Stelle unserer blutsverwandten Fürsten herrscht unser Todfeind: Juda. Die gestrige Revolution, gemacht von Niederrassigen, um den Germanen zu verderben, ist der ­Beginn der Läuterung. Jetzt heißt es kämpfen, bis das Hakenkreuz siegreich aus dem Fimbulwinter aufsteigt!« Der Fimbulwinter ist eine eschatologische Katastrophe in der nordischen Mythologie.

Propagandafoto »Entartete Kunst«

Das Propagandafoto vom 24. Februar 1938 zeigt die Ausstellung »Entartete Kunst« in der Berliner Nationalgalerie

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Am 5. Januar 1919 gründeten Mitglieder der Thule-Gesellschaft die Deutsche Arbeiterpartei (DAP), der im September des Jahres auch Adolf Hitler beitrat. Dieser plädierte im sogenannten Gemlich-Brief, einem Schreiben vom 16. September 1919 an den ebenfalls antisemitischen und nationalistischen Soldaten Adolf Gemlich, für einen »Vernunftsantisemitismus«, der als pseudowissenschaftliche »Weltanschauung« die »Volksgemeinschaft« einigen solle: »Der Antisemitismus als politische Bewegung darf nicht und kann nicht bestimmt werden durch Momente des Gefühls, sondern durch die Erkenntnis von Tatsachen.« Am 24. Februar 1920 wurden die Umbenennung der Partei in NSDAP und das 25-Punkte-Programm verkündet, das den Ausschluss der Juden aus der deutschen »Volksgemeinschaft« forderte: Nur »Volksgenossen« sollten Staatsbürger sein und »Volksgenosse« könne nur sein, »wer deutschen Blutes ist«. Außerdem forderte die Partei unter Punkt 23 den »gesetzlichen Kampf gegen die bewusste politische Lüge und ihre Verbreitung durch die Presse«.

Hetzartikel in Zeitungen wie Der Stürmer oder Völkischer Beobachter und die Störung von Ausstellungen »entarteter« Kunst oder Theater­aufführungen durch die SA waren die Folge. Der antisemitische »Kampfbund für deutsche Kultur« veröffentlichte ein Manifest, welches das deutsche Volk über »Zusammenhänge zwischen Rasse, Kunst und Wissenschaft, sittlichen und willenhaften Werten« aufklären wollte. Das Pamphlet wurde von 60 Personen des öffentlichen Lebens unterzeichnet, darunter der Naziideologe Alfred Rosenberg, der prominente Literaturkritiker Adolf Bartels und Richard Wagners Tochter Eva Chamberlain. Lion Feuchtwanger schrieb 1931: »Was also die Intellektuellen und Künstler zu erwarten haben, wenn erst das Dritte Reich sichtbar errichtet wird, ist klar: Ausrottung.«

Osterloh verfolgt die Politik der NSDAP von den ersten Allianzen mit bürgerlich-konservativen Parteien in Stadträten bis zur Durchsetzung ihrer kulturpolitischen Ziele als ­Regierungspartei, zunächst ab 1930 auf Länder-, schließlich ab 1933 auf Reichsebene. Auch Reichskanzler Franz von Papen (DNVP) trug dazu bei, den Antisemitismus im Bewusstsein der Massen zu verankern. In seiner Regierungserklärung vom 4. Juni 1932 erklärte er den Kampf gegen den »Kulturbolschewismus«, hier ausnahmsweise ohne den Zusatz »jüdisch«, zu einer zentralen Angelegenheit seiner Politik.

Nach der »Machtergreifung« wurde das Parteiprogramm zur Regier­ungspolitik, »›revolutionäre‹, bürokratische und legislative Maßnahmen« wechselten sich ab, schreibt Osterloh. Eine zentrale Rolle spielte das am 13. März 1933 gegründete Reichsministerium für Volksaufklärung und Propaganda (RMVuP) unter der Leitung von Joseph Goebbels. Der Boykott jüdischer Geschäfte im Jahr 1933, die Nürnberger Gesetze von 1935 und die sogenannte Reichskristallnacht vom 9. November 1938 waren aus Sicht der Nationalsozialisten wichtige Meilensteine auf dem Weg zur »Entfernung der Juden« aus der deutschen Gesellschaft. Vor allem die »Rassegesetze« schufen die Grundlage für die systematische Erfassung und den Ausschluss aller »Nichtarier« und »jüdisch Ver­sippten« aus der Reichskulturkammer (RKK).

Der christlich-religiöse Judenhass wurde vom modernen Antisemitismus abgelöst, der nicht nur einer völkisch-rassistischen Ideologie folgte, sondern sich auch in der politischen Organisation anti­semitischer Kräfte widerspiegelte.

Die RKK mit ihren diversen untergeordneten Abteilungen wurde auf Betreiben von Goebbels im Herbst 1933 gegründet. Sie war fortan das wichtigste Instrument zur »Ausschaltung der Juden« aus dem Kulturleben. Nur »geeignete« und »zuverlässige« Kulturschaffende durften Mitglied werden. Und geeignet war, wer sowohl »rassisch« als auch ideologisch auf Linie war. Die RKK war »Teil des nationalsozialistischen Ordnungskonzepts, durch Schaffung einer Volksgemeinschaft die klassenmäßige Schichtung der Gesellschaft zu überwinden«, schreibt Osterloh.

Der Rundfunk spielte dabei eine immer wichtiger werdende Rolle. Im Frühjahr 1933 kündigte Goebbels an: »Der Rundfunk gehört uns, niemandem sonst. Den Rundfunk werden wir in den Dienst unserer Idee stellen, und keine andere Idee soll hier zu Worte kommen.« Neben Mitarbeitern, die als politisch unzuverlässig galten, verloren auch alle Juden ihre Anstellung. Wenige Monate später hielt der neue Direktor der Reichsrundfunkgesellschaft, Eugen Hadamovsky, im Berliner Sportpalast eine Rede, in der er verkündete: »Heute, am 12. August, kann ich unserem Parteigenossen Dr. Goebbels melden, nun ist im Rundfunk der größte Dreck ausgeräumt.«

Goebbels stand unter permanenten Druck – nicht nur von außen. Er selbst hatte sich das Ziel gesetzt, die möglichst lückenlose und totale »Ausschaltung der Juden« zu erreichen. Mehrfach verkündete er daher im Laufe der Jahre, dass der Kulturbetrieb endlich »judenfrei« sei, obwohl er wusste, dass dies eher dem Wunsch als der Realität entsprach. Wenn Joseph Goebbels am 3. Februar 1937 in seinem Tagebuch notierte, die Reichskulturkammer sei nun »ganz entjudet. Eine grandiose Leistung, auf die ich stolz bin«, entsprach dies nicht den Tatsachen. Mehrere Tausend Juden, »Mischlinge« oder »jüdisch Versippte« waren noch Mitglied.

Die Gründe hierfür lagen unter anderem in den unklaren Zuständigkeiten. Ab 1935 war Hans Hinkel im Reichsministerium für Volksauf­klärung und Propaganda als Sonderbeauftragter für »Kulturpersonalien« zuständig. In dieser Funktion war der SS-Offizier insbesondere für die Verdrängung jüdischer Deutscher aus dem Kulturbetrieb verantwortlich, die sogenannte Entjudung. Ab 1937 hatte sich zusätzlich der nachrichtendienstliche Sicherheitsdienst (SD) der SS unter der Führung Reinhard Heydrichs in die »Judenpolitik« eingeschaltet.

Osterloh legt die Konflikte und Widersprüche offen, die zwischen den einzelnen Organisationen und Abteilungen hinsichtlich der Vorgehensweise und Zuständigkeiten bestanden. »Als Verbindungsmann zum SD sollte Hinkel die Pläne des Reichspropagandaministeriums durchsetzen«, schreibt er; andererseits wollte auch das SD-Hauptamt Einfluss nehmen. Osterloh zitiert den Leiter der Abteilung IIA der RKK, der hoffte, dass Hinkel auf die »Bearbeitung der Judenfrage im gesamten Ministerium, einschließlich der einzelnen Kammern«, einwirken könne.

Rede Julius Streichers im Sportpalast Berlin 1935

Der Berliner Sportpalast am 15. August 1935 während einer Rede Julius Streichers, dem Herausgeber des antisemitischen Hetzblattes »Der Stürmer«

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Neben der unkoordinierten Vorgehensweise war es auch die stetige Expansion des Reichs, die das Vorhaben aufhielt. »Die Ausdehnung des Reichsgebiets durch den ‚Anschluss‘ Österreichs im März sowie des ­Sudetenlandes im September 1938 (…) stellten die Reichskulturkammer wie alle Institutionen von Staat und Partei vor die Herausforderung einer raschen Eingliederung von Organisationen und Verbänden und vor allem der Erfassung aller ihrer Mitglieder«, schreibt Osterloh.

In der Studie geht es ihm zwar vor allem um die Täter; das Schicksal der Opfer wird allerdings ebenfalls beleuchtet. Osterlohs Blick gilt vor allem dem Jüdischen Kulturbund, der arbeitslosen jüdischen Künstlern Auftritts- und Verdienstmöglichkeiten und Darbietungen für ein jüdisches Publikum bot. Er existierte von Juli 1933 bis September 1941 und stand unter der stetigen Kontrolle und Zensur der NS-Behörden. Jene anfangs zahlreicheren Kulturbünde Deutscher Juden (so die ursprüngliche Bezeichnung) waren äußerst heterogen zusammengesetzte Auffangstätten von aus ihren Berufen verjagten, arbeitslos gewordenen deutsch-jüdischen Künstlern aller Sparten. Im Rahmen der Institution gab es in den Folgejahren noch für alle Mitglieder Arbeits-, Berufsausbildungs- und Aufführungsmöglichkeiten, ­jedoch ausschließlich für jüdisches Publikum.

Im Jahr 1935 gab es mehr als 36 regionale und lokale Kulturbünde mit etwa 70 000 Mitgliedern. Die Einzelbünde wurden jedoch gezwungen, sich bis zum August 1935 im Reichsverband jüdischer Kulturbünde in Deutschland (RJK) zusammenzuschließen. »Am 15. November 1935 erklärte Joseph Goebbels pathetisch, es sei ›im Kulturleben unseres Volkes kein Jude mehr tätig‹. Man habe aber den ›aus dem Kulturleben ausgeschiedenen Juden in großzügigster Weise Möglichkeiten zur Pflege ihres kulturellen Eigenlebens‹ gegeben.«

Auch wenn die Organisation sehr umstritten war, schuf »der Jüdische Kulturbund mit seinen zahlreichen Veranstaltungen (…) Betätigungs- und Verdienstmöglichkeiten für zahl­reiche Künstlerinnen und Künstler«, so Osterloh. Er zitiert Henry Meyer, ein Mitglied des Kulturbund-Orchesters: Durch Proben und Auftritte konnten die Mitglieder »sehr viel vergessen (…) was uns täglich passierte«. »Der Kulturbund war ein Lichtblick in trüber Zeit«, ergänzt Ernest Lenart, ein Besucher der Theateraufführungen in Berlin.

1939 hatte die RKK die »Volljuden« nahezu komplett ausgeschlossen; bei den zahlreichen »Mischlingen« und »jüdisch Versippten« war dies allerdings nicht der Fall, da sie über Sondergenehmigungen verfügten. Goebbels wird zitiert: »Die Juden versuchen, wieder in das Kulturleben einzudringen. Vor allem Halbjuden. Wenn sie bei der Truppe sind, haben sie ein gutes Argument. Trotzdem lehne ich alle diesbezüglichen Anträge ab.« Eine Gnadenfrist für »Mischlinge« und »jüdisch Versippte« gab es vor allem in den ersten Kriegsjahren, weil zahlreiche »arische« Schauspieler zum Kriegsdienst eingezogen wurden. Die Sonder­genehmigungen waren allerdings umstritten. Anfang 1945 sollten schließlich auch jene Juden deportiert werden, die in Ehen mit »arischen« Partnern lebten.

Osterloh zeigt auch, dass die mit Begriffen wie »Entartung«, »Zersetzung« oder »Kulturbolschewismus« betriebene Hasspropaganda gegen das Judentum auch dann noch weiterging, als fast alle Juden bereits aus dem Reichsgebiet deportiert und ermordet worden waren.

Jörg Osterloh: »Ausschaltung der Juden und des jüdischen Geistes«. Nationalsozialis­tische Kulturpolitik 1920–1945. Campus-Verlag, Frankfurt am Main/New York City 2020, 646 Seiten, 45 Euro