Es drängt sich der Verdacht auf, dass manche Schüler sich beim Fernunterricht doublen lassen

Passt schon

Klassenkampf Von

»Well done!« sage ich zu meinem Spiegelbild im Com­puterbildschirm und versuche, ermutigend zu gucken, insgeheim hoffend, dass das jetzt an der besonderen Situation liegt, dem Bildschirm, dem Fernunterricht und allem, dass ich grinse, als hätte ich eine geladene Bazooka unterm Schreibtisch und nicht mehr alle Tassen im Schrank. Andererseits, natürlich würde es einige erschrockene Kindergesichter der vergangenen Jahre erklären, wenn ich tatsächlich immer so dreinschaute, während ich versuche, ermutigend zu gucken. Jetzt gerade wäre ein negativer Gesichtsausdruck ganz besonders unangemessen, er hat es wirklich gut gemacht, der Mike. Seitdem wir im Fernunterricht sind, ist die kleine gelbe Meldehand fester Bestandteil seines Namensicons am linken Bildschirmrand, kaum je nimmt er sie herunter und meist hat er die richtige Antwort parat.

Das ist ein bisschen erstaunlich, weil er damals, als wir noch alle morgens unser Schultäschchen packen und in die Schule trotten mussten, zu denen gehörte, die sich im hinteren Teil des Klassenraums versteckten und die ganze Stunde über sehr angestrengt in ihr Buch und niemals aufschauten, aus Sorge, man könne ihren Blick auffangen und sie etwas fragen. Jetzt scheint er zu den wenigen Kindern meiner Schule zu gehören, die von dem Arbeitsklima zu Hause immens profitieren. Auch seine schriftlichen Leistungen sind viel besser als zuvor – während er im Klassenraum lediglich stark fehlerhafte Stummelsätze zu produzieren in der Lage war, kann er nun verständliche englische Sätze schreiben. Das Einzige, was mich ein bisschen stört, ist, dass Mike nicht nur, wie alle unsere Schülerinnen und Schüler, seine Kamera während der Videostunden ausgestellt hat, sondern auch über andauernde technische Schwierigkeiten mit seinem Mikro berichtet, so dass man mit ihm nur über die Chatfunktion kommunizieren kann.

Er ist natürlich nicht der Einzige, dem es so geht, ein tragisches Mikrophonsterben ist die zweite Seuche, die meiner Schule momentan schwer zu schaffen macht. Aber er ist der mit dem auffälligsten Lernfortschritt. Weswegen manchmal, nachts, wenn es Zweifel, Sorge und Misstrauen gelingt, aus dem Kopfkistchen auszubrechen, in das ich sie tagsüber einsperre, um eine funktionierende Lehrerin sein zu können, vor mir im Dunkel die Frage erscheint, ob es nicht vielleicht sein kann, dass es Mikes Mutter ist, die bei mir in Englisch inzwischen auf einer stabilen Zwei steht, oder sein Vater, der engagiert am Videoenglischunterricht für die achte Klasse teilnimmt. Aber dann kommen meist schnell Zweckoptimismus, Pragmatismus und »Passt schon« angerannt, sammeln die drei Bösewichter ein, sperren sie zurück ins Kistchen und ich kann mich umdrehen und mich freuen, dass es einen gibt, der was gewonnen hat in der Pandemie, wenigstens einen.