Wolfgang Thierse fühlt sich abgecancelt

Der hat einen Bart

Wolfgang Thierse und die woke SPD.
Die preisgekrönte Reportage Von

In einem Gastbeitrag in der FAZ hatte der Bartträger und Bürgerrechtler Wolfgang Thierse vor kurzem das geschätzte Publikum wissen lassen, dass er sich vom Gendern, von Straßenumbenennungen, Identitätspolitik und überhaupt von allem überfordert fühle. Zunächst hielt man den Beitrag für einen typischen FAZ-Leserbrief. Dann kam heraus: Der Mann ist in der SPD, saß einige Jahre im Bundestag, war sogar dessen Präsident. Eine Riesenblamage für die Gesamtpartei; Saskia Esken und Kevin Kühnert distanzierten sich fix.

Tatsächlich steht die Partei vor einem Problem: Einerseits möchte sie hip sein, aware, woke, fern von Weißgreisen wie Thierse; andererseits ist man halt auch in der SPD. Ein strategisches Paradox, das bis zur Wahl aufgelöst werden muss. Bolzbert Norr, Strategieberater im Willy-Brandt-Haus, soll es richten. Das geschmackvoll eingerichtete Besprechungszimmer, in dem er zum Gespräch bittet, grenzt an die hauseigene Espressobar sowie an eine Halle, in der eintausend Affen mit eintausend Schreibmaschinen an eintausend Parteiprogrammen schreiben.

Norr lässt den Eklat Revue passieren. Zunächst sei da die Überraschung gewesen, dass Thierse überhaupt noch am Leben sei. »Wir wähnten ihn eigentlich unter den geehrten Gründerfiguren der So­zialdemokratie, bei Bebel, Lassalle und Nida-Rümelin«, erzählt Norr. »Oder aber als Aufsichtsrat bei irgendeinem Schweinekonzern. Das Übliche halt!«

»Was die Saskia gesagt hat, gilt«, sagt Norr. »Aber: Wir müssen auch die Alten mitnehmen. Deswegen setzen wir uns für die Entcancelung von Thierse ein! Wer Wolfgang cancelt, cancelt auch ein Stück Menschlichkeit. Einem Mann, der nach ­circa 20 Jahren zum ersten Mal wieder in der Öffentlichkeit auftritt, das gleich wieder zu verbieten, ist auch ein bisschen Ageism.« Man biete jetzt allen SPD-Mitgliedern über 60 an, in einem Gastbeitrag für die Parteizeitschrift Vorwärts ihre Meinung zum Gendern mitzuteilen. »Wenn dann alle ihre individuelle Cancel-Culture-Debatte und eine Woche Aufmerksamkeit hatten, sind hoffentlich alle beruhigt. Oder tot! Mir ist beides recht.«

 

Aus der Urteilsbegründung: Leo Fischers preisgekrönte ­Reportagen sind in hohem Maße fiktiv. Ähnlichkeiten mit realen Personen und Geschehnissen sind unbeabsichtigt.