Wie vormalige Kolonien sich ­ehemals kolonisierte Gebiete einverleibten

Tücken der Entkolonialisierung

Manche ehemalige Kolonien haben benachbarte Gebiete ihrer Kontrolle unterworfen. Das wirft die Frage auf, ob ehemals Kolonisierte zu Kolonisatoren wurden.

In der Regel verlief die Entkolonialisierung nach dem Zweiten Weltkrieg in relativ geordneten Bahnen. Es gab zuvor bereits große Unabhängigkeitsbewegungen, die sich früher oder später durchsetzen konnten – teils nach jahrzehntelangen, hartnäckigen Kämpfen wie in Indien, teils jedoch erst nach schweren bewaffneten Konflikten, insbesondere in Indochina, Indonesien oder Algerien.

1960 erreichten in Afrika 17 Staaten die Unabhängigkeit. Die Grenzen dieser neuen Staaten entsprachen meist denen der vormaligen kolonialen Verwaltungseinheiten. Wohlweislich sicherten sich diese Staaten gegenseitig ihre territoriale Integrität zu, was Konfrontationen wenigstens diesbezüglich bislang weitgehend verhindert hat.

Postkoloniale Anschauungen werden seit einiger Zeit auch dort geltend gemacht, wo dies zunächst nicht nahezuliegen scheint.

Größere Konflikte im Zuge der Entkolonialisierung gab es in erster Linie dort, wo weiße Siedler sich der Unabhängigkeit und der Mehrheitsherrschaft in den Weg stellten, und dort, wo die koloniale Grenzziehung verändert oder unter Verweis auf unterschiedlich begründete Herrschaftsansprüche nicht anerkannt wurde. Die Teilung Britisch-Indiens in die Indische Union und Pakistan, die die Kolonialmacht ursprünglich zu verhindern versucht hatte und dann aus Rücksicht auf die Führung der muslimischen Minderheit 1947 zugestand, hatte nach Schätzungen etwa eine Million Tote und 15 Millionen Geflüchtete zur Folge.

Zu Konflikten kam es auch dort, wo bereits etablierte unabhängige Staaten Ansprüche auf angrenzende Gebiete erhoben, die noch unter kolonialer Herrschaft standen oder noch nicht unabhängig geworden waren. So annektierte Äthiopien 1962 die ehemalige italienische Kolonie Eritrea, die ihm zuvor von den Vereinten Nationen mandatiert worden war. Nach jahrzehntelangem Krieg erlangte Eritrea 1993 seine Un­abhängigkeit. 1975 besetzte Indonesien die bis dahin portugiesische Kolonie Osttimor, 2002 wurde sie nach langem Befreiungskampf unter dem Namen Timor-Leste unabhängig. Die ehemalige deutsche Kolonie Namibia wurde bis 1990 illegal von Südafrika verwaltet. Die Besetzung der vormals spanischen Westsahara durch Mauretanien und Marokko 1975 stellt einen weiteren Fall dar.

Alle diese Prozesse verliefen gewaltsam. Das gilt sowohl für die militärische Okkupation wie für die Befreiungskriege, die meist kurz danach begannen. Die Beendigung vieler dieser Konflikte war an spezifische Bedingungen gebunden – den Zusammenbruch herrschender Regime und auch das Ende der Blockkonfrontation. So hing der Rückzug des Apartheidregimes aus Namibia eng mit dem Ende der Konkurrenz zwischen den USA und der Sowjet­union im südlichen Afrika zusammen und hatte zugleich die Garantie des sozioökonomischen Status quo zur Voraussetzung.

Nur in einem der genannten Fälle, dem Namibias, lässt sich eindeutig von Kolonisation durch den benachbarten Staat sprechen. Hier wurde trotz entsprechender Bestrebungen Südafrikas eine Annexion auch niemals formell vollzogen. In den anderen, einschließlich des Falls der Westsahara, handelt es sich um die formelle, durch internationales Recht jedoch nicht legitimierte und – mit Ausnahme Eritreas – von der sogenannten internationalen Gemeinschaft mehrheitlich nicht anerkannte Einverleibung eines ehemals kolonisierten Territoriums. Zur Rechtfer­tigung dieses Vorgehens wurden – außer im Fall Namibias – eigene historische Ansprüche geltend gemacht. So wurde behauptet, man überwinde koloniales Unrecht, indem man Gebiete vereinige, die nur durch die Kolonisation auseinandergerissen worden seien.

Soll die Frage geklärt werden, ob in diesen Fällen Kolonialherrschaft unter anderen Vorzeichen fortgeführt oder erneuert wurde und wird, so muss man zunächst klären, was mit kolonialer Herrschaft gemeint ist. Dies ist auch wichtig, weil postkoloniale Anschauungen und damit verbundene Ansprüche seit einiger Zeit auch dort geltend gemacht werden, wo dies zunächst nicht nahezuliegen scheint. Dies gilt vor allem für große Teile der ehemaligen Sowjetunion sowie deren osteuropäischen Einflussbereich. Es steht außer Frage, dass es dort Unterdrückung gab und diese weithin als Fremdherrschaft empfunden wurde. Ist aber Fremdherrschaft immer gleichbedeutend mit Kolonialismus?

Vor allem im klassischen Marxismus-Leninismus war die »koloniale Frage« der »nationalen Frage« subsumiert. Dennoch ist es schwer vorstellbar, dass zu Beginn des 20. Jahrhunderts etwa die sehr energische tschechische Nationalbewegung, die sich auf eine indus­triell-kapitalistisch stark entwickelte Region bezog, als Vertreterin eines kolo­nisierten Landes aufgetreten wäre. Ebenso wenig scheinen heutzutage solche Vorstellungen in den Unabhängigkeitsbewegungen in Katalonien oder Schottland eine Rolle zu spielen, sehr wohl aber retrospektiv im Baltikum ­sowie nicht nur bei manchen Ideologinnen und Ideologen der rechtskonser­vativen polnischen Regierungspartei PiS oder auch unter nationalen Minderheiten in Russland.

Die Befürchtung liegt nahe, dass ­zumindest im Fall Polens die post­kolo­ni­ale Rhetorik dazu dient, einen Na­tionalismus zu überhöhen, den der südkoreanische Historiker ­Jie-Hyun Lim mit Blick auf in seinen Land kursierende Vorstellungen treffend als »Opfernationalismus« bezeichnet hat.

Geht man von neueren Bestimmungen von »Kolonie« aus, so ging es den ­Kolonisatoren meist um Handel oder die Erschließung von ­Absatzmärkten, die Ausbeutung von Bodenschätzen oder Agrarprodukten, schließlich um die Gewinnung von Land zur Besiedelung von der Kolonial­metropole aus. Hinzu kamen in einigen Fällen strategische Überlegungen, und zweifellos spielte auch das Streben nach internationalem Renommee eine Rolle, beispielsweise für die Kolonialpolitik des Deutschen Reichs.

Kolonien waren nicht immer territorial getrennt von der Metropole. Die erste Kolonie Englands, Irland, lag in unmittelbarer Nachbarschaft der Kolo­nialmacht. Wesentlich für koloniale Herrschaft war die auf gewaltsamer Unterwerfung und andauernder Gewaltanwendung beruhende kontinuierliche Ausbeutung der Ressourcen der Kolonie sowie deren Ausrichtung an den Bedürfnissen der Metropole. Aus diesem Grund wird das Andauern der kolonial etablierten Hierarchien und Ausbeutungsverhältnisse nach dem Erreichen der formalen Unabhängigkeit ehema­liger Kolonien auch als Neokolonialismus bezeichnet.

Auf die von ehemals kolonisierten Staaten unter Verstoß gegen internationales Recht besetzten Territorien be­zogen wird man daher die Frage, ob es sich hier um eine Neuauflage des Ko­lonialismus oder eine Art Kolonialismus zweiter Ordnung handele, differenziert beantworten müssen. Der Fall des 75 Jahre lang von Südafrika beherrschten Namibia ist auch staatsrechtlich eindeutig, hier handelte es sich um die Fortsetzung von Kolonialherrschaft. Das Interesse des eben erst der versuchten Kolonisierung durch Italien entronnenen Äthiopien an Eritrea war naheliegend, allein schon aufgrund des Zugangs zum Meer. Zudem ließen sich jahrtausendealte Ansprüche unter Verweis auf das Reich von Aksum kon­stru­ieren. Die Annexion Eritreas konnte auch als Fortsetzung der Expansion Äthiopiens verstanden werden, die Jahrzehnte zuvor im Zuge des Scramble for Africa voll­zogen worden war, dem Wettlauf der Kolonialmächte um Territorien in ­Afrika von etwa 1885 bis zum Beginn des Ersten Weltkriegs.

Osttimor besaß allenfalls eine begrenzte strategische Bedeutung für Indonesien. Im Fall der Westsahara spielen neben Bodenschätzen historische Ansprüche Marokkos eine Rolle. Aus dieser Sicht würde die marokkanische Besatzung der Westsahara auf die Beseitigung kolonialen Unrechts hinauslaufen. Doch diese Ansprüche geraten, wie in den anderen genannten Fällen auch, vermutlich mit dem Mehrheitswillen der Bevölkerung – bei allen Schwierigkeiten, diesen festzustellen – in Konflikt.

Die These von der Kolonisierung durch ehemals Kolonisierte geht nicht so einfach auf, wie es zunächst scheinen mag, sie verweist aber auf wichtige, für ein Verständnis der Konflikte zu ­beantwortende Fragestellungen.