Die Musikerin Masha Qrella interpretiert Gedichte von Thomas Brasch

Bleiben, wo ich nie gewesen bin

Die Berliner Musikerin Masha Qrella vertont und interpretiert auf ihrem sechsten Soloalbum »Woanders« Gedichte des deutsch-deutschen Schriftstellers und Filmemachers Thomas Brasch.

Songtexte sind keine Gedichte und Gedichte sind keine Songtexte. Nicht nur die Vortrags- und Rezeptionsweisen der beiden Textformen unterscheiden sich, auch die Bedeutung des Metrums – Reim und Rhythmus der Verse – und der Sprachmelodie ist eine andere. Deshalb stellt es eine besondere Herausforderung dar, Lyrik zu vertonen, ohne sie dabei zu entkräften oder sogar zu verfälschen. Die Berliner Musikerin Masha Qrella meistert diese Herausforderung auf ihrem Doppelalbum »Woanders« auf beeindruckende Weise: Sie wird den Gedichten Thomas Braschs (1945 – 2001) in ihrer musikalischen Umsetzung gerecht, ohne dabei ihren eigenen Sound oder ihre eigene Stimme zu glätten.

Anders als Wolf Biermann diente sich Thomas Brasch später nicht dem politischen und kulturbetrieblichen Establishment der Bundesrepublik an.

Für die 17 Titel des Albums arbeitet Qrella mit gut 20 lyrischen Texten des in der DDR geschassten Schriftstellers, Dramatikers und Filmregisseurs Brasch, denn in manchen der Stücke werden gleich zwei seiner Gedichte zusammengeführt oder collagiert. Die Songwriterin wählte sehr genau aus und verwendete zum Teil nur Ausschnitte oder einzelne Strophen längerer Gedichte. Den Wortlaut bearbeitete sie zumeist kaum; das musste sie auch nicht, da Braschs Verse oft von großer Prägnanz und zeitloser Aktualität sind, so dass sie auch als Liedzeilen überraschend gut funktionieren, sich bisweilen sogar als Slogans abheben. Der Jungle World erzählt Qrella: »Ich war selber überrascht über das, was mir in Braschs Texten entgegenschlug – dass sie so unfassbar modern klangen, befreit von diesen Zuordnungskriterien wie »ostdeutsche Lyrik«, und eben auch sehr poppig waren.« Sie hat zudem im Archiv unterschiedliche Textfassungen recherchiert, so dass sie etwa für das Titelstück »Woanders« von Brasch selbst gestrichene Verse verwendete, wie sie per Video­konferenz aus ihrer derzeitigen Künstlerinnenresidenz in Istanbul erläutert. So fügte sie den freien Versen von Braschs »Wenn man woanders wär« zwei philosophisch anmutende, von ihm verworfene Fragen im Songtext wieder hinzu: »Wo ist man woanders? Und wo ist man anders?«

Qrella, im Ostberliner Stadtteil Lichtenberg aufgewachsen, stammt aus der Underground-Musikszene, die sich in Prenzlauer Berg um das Jahr 2000 herum, beeinflusst von US-amerikanischem Post- und Indie­rock, weder in die Nachfolge der Hamburger Schule stellen noch der Berliner Elektro- und Techno-Szene anschließen wollte. Vor allem das 2000 erschienene Album »Tell Me When« von Qrellas Instrumentalband Contriva ist weiterhin fabelhaft, eine gänzlich unprätentiöse, verträumt-luftige Variante des Chicagoer Post-Rock der späten neun­ziger Jahre.

Ab 2002 verfolgte Qrella zunächst nebenher und nach der dritten und letzten Platte von Contriva 2006 dann in der Hauptsache ihre Solokarriere. »Woanders« ist Qrellas sechstes Studioalbum, stilistisch wechselt es noch facettenreicher als ihre bisherigen Arbeiten zwischen reduziertem Wavepop, Indietronics und chansonesken Balladen.

Die erste Single-Auskopplung »Geister« klingt dagegen fast schon technoid, ein energetisch waberndes, elegantes Elektropop-Stück, das entfernt an New Order erinnert, zumal in Qrellas Musik, auch in ihren früheren Bands, der Bass schon immer gleichberechtigt neben Gitarren und Synthies zum Einsatz kam und auch als Melodieinstrument zum Sound beiträgt. In »Geister« intoniert sie nur die letzte Strophe aus Braschs »Sprachlos die Tänzer: Die haben es gut« – immer wieder in schroffem Kontrast zum entfesselten Charakter des Lieds um die Zeilen kreisend: »Wie soll ich dir das beschreiben/Ich kann nicht tanzen. Ich warte nur.«

Das Zentrum des Albums bildet der zweite Song »Bleiben«, in dem Qrella eines der bekanntesten Gedichte Thomas Braschs vertont, das dieser ohne Titel 1977 als sechsten Teil seines Versdramas »Der Papiertiger« veröffentlichte. Die innere Zerrissenheit zwischen Haben und Wollen darin erinnert an Peter Heins einschlägige persönliche Absage an die Hinnahme der Zustände in dem Fehlfarben-Stück »Paul ist tot« von 1980. Während der Westdeutsche Hein jedoch klar und schlicht seine Unzufriedenheit mit dem persönlichen Status quo bekundete – »Was ich haben will/das krieg ich nicht/und was ich haben kann/das gefällt mir nicht« – kommt in Braschs Versen gleichzeitig die Angst vor dem Verlust des eigenen Bezugsrahmens und der eigenen Freunde zum Ausdruck: »Was ich habe, will ich nicht verlieren, aber/wo ich bin, will ich nicht bleiben, aber/die ich liebe, will ich nicht verlassen, aber/die ich kenne, will ich nicht mehr sehen.«

Auch ohne konkreter zu werden, reflektiert er hier deutlich sein ambivalentes Verhältnis zur DDR. Nachdem er 1976 die Resolution gegen die Ausbürgerung von Wolf Biermann mitunterzeichnet hatte und zudem die Veröffentlichung des Prosabands »Vor den Vätern sterben die Söhne« von den staatlichen Behörden verweigert worden war – trotz persönlicher Vorsprache Braschs beim damaligen DDR-Staatsoberhaupt Erich Honecker –, stellte er einen Ausreiseantrag und übersiedelte mit seiner Freundin Katharina Thalbach und deren Tochter Anna nach Westberlin. Anders als Biermann diente er sich später aber nicht dem politischen und kulturbetrieblichen Establishment der Bundesrepublik an, so dass die im Gedicht artikulierte Zerrissenheit nicht an Aktualität verlor.

Am anschaulichsten wurde dies bei der Verleihung des Bayerischen Filmpreises 1981 an Brasch für dessen Regiedebüt, das Geschichtsdrama »Engel aus Eisen«. Nachdem Brasch den Preis aus den Händen des bayerischen Ministerpräsidenten Franz Josef Strauß mit distanziertem Gestus angenommen hatte, ging er in einer knappen Rede auf die Widersprüchlichkeit dieser staatlichen Auszeichnung für den subversiven Künstler ein, betonte seinen »anarchischen Anspruch auf eigene Geschichte« und erklärte, dass seine Dankbarkeit der Babelsberger »Filmhochschule der DDR für meine Ausbildung« gelte. Dafür gab es aus dem Münchner Publikum heraus Buhrufe.

Den utopischen Schlusspunkt des Gedichts in »Der Papiertiger« löste die bundesdeutsche Realität für Brasch offenbar nicht ein, doch bleibt er als absurdes Ideal wahr: »Bleiben will ich, wo ich nicht gewesen bin.« Qrella vertont die sieben Verse des Gedichts als treibenden Popsong mit markantem Basslauf im Stile etwa von Blumfelds »Pro Familia« (vom 1999 erschienenen Album »Old Nobody«). Nur der abschließende Halbsatz »Wo ich nie gewesen bin« wird mehrstimmig, in leicht entrückter Harmonie zusätzlich wiederholt. Außerdem greift Qrella das komplette Gedicht im Song »Haut« wieder auf, dessen sonstiger Text ebenfalls aus Braschs lyrisch-dramatischem »Papiertiger« stammt. Die Musikerin arbeitete hierfür mit dem Elektro-Duo Tarwater, bestehend aus Ronald Lippok und Bernd Jestram, zusammen, die bereits bei der 1983 gegründeten Ostberliner Artpunk-Band Ornament & Verbrechen mitgewirkt hatten (»Vergessen kann auch produktiv sein«).

Ohnehin versammelt Qrella auf ihrem Doppelalbum mit Andreas Spechtl (unter anderem von der Band Ja, Panik) und Dirk von ­Lowtzow (Sänger von Tocotronic) als Duettpartnern einige namhafte Mitstreiter. Thomas Braschs jüngere Schwester Marion wiederum, die den Roman »Ab jetzt ist Ruhe« über die Geschichte ihrer Familie geschrieben hat, spricht beim Song »Märchen« das Gedicht »Dornröschen und Schweinefleisch« ihres Bruders, während im Wechsel dazu Qrella und erneut Ronald Lippok Braschs Gedicht »Wer wohnt wo« singen.

In der Hauptsache aber kooperierte Qrella bei den Songs auf »Woanders« mit dem Multiinstrumentalisten Andreas Bonkowski sowie dem Drummer und musikalischen Tausendsassa Chris Imler. Ursprünglich war gar kein Album geplant. Qrella und ihre beiden Mitmusiker sowie die Regisseurin Diana Näcke und die Dramaturgin Christina Runge hatten ihre Adaptionen und Variationen der Poesie Braschs zunächst 2019 beim Berliner Popkultur-Festival sowie im Rahmen einer aufwendigen Bühnenperformance im Berliner Theater Hebbel am Ufer (HAU) vorgestellt. Erst die positive Resonanz als auch die Unmöglichkeit weiterer Auftritte aufgrund der Covid-19-Pandemie führten dazu, aus Qrella Beitrag ein Studioalbum zu machen. Parallel produzierte sie wiederum mit Näcke und Runge ein Hörspiel zu Brasch für den Deutschlandfunk, das kürzlich erstausgestrahlt wurde.

Zurzeit arbeitet Qrella als artist in residence an der Istanbuler Kulturakademie Tarabya daran, die Brasch-Inszenierung aus dem HAU für ein türkisches Publikum umzuarbeiten. Dazu werden Braschs Gedichte ins Türkische übersetzt; geplant ist die Zusammenarbeit mit türkischen Musikerinnen und Musikern. Finanziert wird Qrellas Stipendium vom Auswärtigen Amt, so dass sie wie Brasch nicht aus dem Widerspruch zwischen unabhängigem Kunstanspruch und der Inanspruchnahme von staatlicher oder anderweitiger Kulturförderung herauskommt: »Thomas Brasch beschreibt das ja sehr treffend, diesen Widerspruch, in dem man als Künstler lebt in diesem System, in dem man Kunst verkauft – was uns auch Kompromisse machen lässt. Andererseits ist auch klar: Wenn die rein kommerzielle Verwertbarkeit das oberste Kriterium für Kunst ist, dann kommen auch fragwürdige Sachen dabei heraus.« Zumindest Brasch und Qrella werden dem Anspruch auf freie Kunst mehr als nur gerecht.

Masha Qrella: Woanders (Staatsakt)