Small Talk mit Nico über die Räumung des Obdachlosencamps an der Rummelsburger Bucht

»Die Situation war erdrückend«

Freitagnacht voriger Woche löste das Bezirksamt des Berliner Ortsteils Lichtenberg das bis dahin geduldete Obdachlosencamp an der Rummelsburger Bucht auf. Der Bezirk verwies auf Lebensgefahr durch den drohenden Kälteeinbruch. Weniger als die Hälfte der 100 Bewohner hat die Hilfe des Bezirks angenommen und wohnt nun in Hostels. Die Jungle World sprach mit Nico* von der Antifaschistischen Vernetzung Lichtenberg.
Small Talk Von

Wann haben Sie davon erfahren, dass die Menschen das Camp verlassen mussten?
Wir haben erst am nächsten Tag von der Räumung erfahren durch einen Aufruf, sich zu einer Kundgebung zu versammeln. Die Situation am Camp war erdrückend. Es schliefen Menschen wenige Hundert Meter entfernt vom Eingang des Camps im Schnee. Als wir sie angesprochen haben, haben sie gesagt, dass sie darauf warteten, noch einmal ins Camp gelassen zu werden, um zum Beispiel ihre warme Kleidung zu holen, die sie nicht mehr mitnehmen konnten.

Nach offiziellen Angaben durften die Bewohner am nächsten Tag ohne Probleme ihre Sachen abholen.
Ja, allerdings erst, nachdem der stellvertretende Bürgermeister von Aktivisten bei ­einem Gespräch mit der Presse unterbrochen und mit der S­ituation konfrontiert worden war. Vom Bezirk vorgesehen war das sicher nicht.
Der stellvertretende Bezirksbürgermeister Kevin Hönicke (SPD) versicherte, dass weder vom Bezirk noch von der Eigentümerin eine Räumung angeordnet worden sei.
Herr Hönicke sieht die Verantwortung nach der Räumung nicht mehr bei sich, sondern bei der Eigentümerin. Wir konnten am Samstagnachmittag mit etwa 100 Leuten beobachten, wie hinter dem Zaun der Bagger Tatsachen schuf, indem er die Behausungen mitsamt dem Eigentum der Bewohner niederriss. In der Presse wurde auch von der Zerstörung eines Wohnmobils berichtet.

Seit wann waren die Bagger dort?
Die Bagger standen schon zuvor auf dem Gelände, weil dort ja teurer Wohnraum entstehen soll und eine Touristenattraktion. Das legt den Verdacht nahe, dass die Räumung auch im Interesse der Investorin durchgesetzt wurde und Fakten geschaffen werden sollten.

Einige der Protestierende haben nicht nur zugeschaut.
Drei Leute konnten spontan einen der Bagger besetzen und die Zerstörung zumindest am Samstag stoppen. Die Polizei holte sie später brutal vom Bagger herunter, eine der Besetzerinnen und Besetzer landete im Krankenhaus.

Einem Bericht des »Tagesspiegels« zufolge habe die Aufstellung eines Wärmezelts unter anderem aus Brandschutzgründen verworfen werden müssen.
Dass es wieder Winter werden würde, war wohl allen Verantwortlichen klar. Und die Situation im Camp ist auch nicht erst seit einer Woche bekannt. Begründungen mit Brandschutz sind derzeit populär, um Räumungen unliebsamer Projekte durchzudrücken, wie bei den Protesten im Hambacher Forst oder in der Rigaer Straße 94.

Die Sozialsenatorin Elke Breitenbach (Linkspartei) bezeichnete die Proteste als »zynisch«, der Vorsitzende der Sozialgenossenschaft Caruna, Jörg Richert, sieht eine Instrumentalisierung der Obdachlosen durch Gentrifizierungsgegner.
Das ist eine dreiste Diskursverschiebung. Es geht uns nicht darum, die Situation im Camp zu romantisieren, sondern auf die katastrophale Situation von Menschen aufmerksam zu machen, die mitten in der Nacht ihr Obdach verloren und gute Gründe haben, warum sie nicht auf die Angebote des Bezirks eingehen wollen. Unter den Geräumten waren zum Beispiel Sexarbeiterinnen und Sexarbeiter, die sich in Sammelunterkünften nicht sicher fühlen.

* Name von der Redaktion geändert