Das in Beirut explodierte Ammoniumnitrat war möglicherweise für das syrische Regime bestimmt

Spuren zu Assad

Die Untersuchung der Explosion im Hafen von Beirut im vorigen Jahr ist noch nicht weit vorangekommen. Nun gibt es Indizien dafür, dass das dort gelagerte Ammoniumnitrat für das syrische Regime bestimmt war.

Die juristische Aufarbeitung der Kata­strophe, die sich am 4. August vorigen Jahres im Hafen von Beirut ereignete, ist noch nicht weit gekommen. Vermutlich durch Feuerwerkskörper entzündet, waren dort in einem Hangar etwa 2 750 Tonnen Ammoniumnitrat ex­plodiert. Eine verheerende Druckwelle raste durch die hafennahen Stadtviertel, tötete mehr als 200 Menschen, verletzte etwa 6 500 und zerstörte die Wohnungen von 300 000 Einwohnern. Die Bilder einer schwer getroffenen Stadt und ihrer verzweifelten Bevölkerung gingen um die Welt. Es war und ist unbegreiflich, dass eine solche Menge einer gefährlichen Chemikalie jahrelang ungesichert inmitten einer Großstadt lagern konnte.

Wenige Tage später trat Ministerprä­sident Hassan Diab mit seinem gesamten Kabinett zurück. Die Regierung blieb jedoch geschäftsführend im Amt, bis am Donnerstag voriger Woche eine neue zustande kam – erneut unter Diab. Ein Untersuchungsrichter, Fadi Sawan, wurde mit den Ermittlungen beauftragt. Er konzentrierte sich auf die rasch bekannt gewordene Tatsache, dass es mehrere explizite Warnungen vor dem Ammoniumnitrat im Hafen gegeben hatte; bei der Hafenaufsicht und beim Zoll war man über die drohende Gefahr informiert; auch hatten mehrere Richter und Ausschüsse Warnungen erhalten. Etwa zwei Wochen vor der Explosion hatte ein leitender Sicherheitsbeamter sogar Präsident Michel Aoun und Diab dringend um Abhilfe gebeten.


Für den letzten Abschnitt des Transfers von Ammoniumnitrat kommt eigentlich nur die ­proiranische libanesische Miliz Hizbollah in Frage, die in Syrien an der Seite Assads kämpft.

Davon ausgehend erhob Sawan Anklage gegen 37 Personen, von denen er 25 in Untersuchungshaft nehmen ließ. Anfang Dezember klagte er auch Diab und drei von dessen ehemaligen Ministern wegen Fahrlässigkeit an. Sogleich bekam er die tatsächlichen Machtverhältnisse im Libanon zu spüren. Der Hizbollah nahestehende ­Politiker warfen ihm Verfassungsbruch vor und beantragten seine Absetzung, weil die angeklagten Regierungsmitglieder Immunität genießen müssten. ­Sawan wurde vom Obersten Gericht in seinem Auftrag bestätigt, allerdings ­erklärte er, seine Ermittlungen erst nach Beendigung der derzeit verhängten scharfen Pandemiemaßnahmen fortsetzen zu können. Also wird die libanesische Öffentlichkeit immer wieder mit dem Versprechen vertröstet, Sawans Bericht über den ­Ermittlungsstand werde »in wenigen Tagen« erscheinen.

Wenig Aufmerksamkeit gewidmet hat der Unter­suchungsrichter bisher den Fragen, wie das Ammoniumnitrat nach Beirut kam, wem es zuzuordnen ist und zu welchem Zweck es im Hafen mehr oder weniger unbeaufsichtigt gelagert wurde. Alles, was da­rü­ber bekannt geworden ist, deutet auf Schmuggel hin, dessen Auftraggeber und ­Lieferanten im Dunkel bleiben. Hergestellt hat das Sprengmittel die Chemiefabrik Rustavi Azot in Georgien, worauf die Aufschrift »Nitroprill« auf den Säcken hinwies. Diese wechselte 2017 den Besitzer; die neuen Eigentümer fanden angeblich keine Unterlagen über alte Geschäfte.

In einem Kaufvertrag vom 10. Juli 2013, den der Nachrichtensender al-Jazeera einsehen konnte, ist als Bestimmungsort der Ware Mosambik eingetragen. Dort bestätigte die Fábrica de Explosivos de Moçambique (FEM), die Ladung bestellt und zu diesem Zweck als Zwischenhändler Savaro Ltd. in London eingeschaltet zu haben, die auch im Kaufvertrag genannt ist. Savaro war allerdings vor allem ein Briefkasten an dem Haus in London, dessen Adresse im Firmenregister eingetragen ist. Das Unternehmen beschäftigte keine Angestellten, wies keine Aktivitäten aus und wurde umgehend aufgelöst, als es sich mit unangenehmen Fragen konfrontiert sah.

Den Transport des Ammoniumnitrats übernahm der auf Zypern ansässige russische Geschäftsmann Igor Gretschuschkin. Dafür charterte er den unter moldawischer Flagge fahrenden schrottreifen Frachter »MV Rhosus«. Das Schiff nahm das Gefahrgut im georgischen Hafen Batumi auf und legte am 27. September 2013 mit dem angeblichen Zielhafen Beira in Mosambik ab. Nach Aussage ihres russischen Kapitäns Boris Prokoschew erhielt die »MV Rhosus« dann vom Reeder die Anweisung, Beirut anzulaufen, um zusätzliche Fracht aufzunehmen. Dort wurde das Schiff von der Hafenaufsicht in­spiziert und für nicht seetüchtig erklärt. Da Gretschuschkin die Anlegegebühren nicht zahlen wollte, wie übrigens auch die Heuer für seine Mannschaft, wurde das Schiff beschlagnahmt und das Ammoniumnitrat entladen. Im ­Februar 2018 sank die »MV Rhosus« im Hafen von Beirut.

Um den verschlungenen Handel aufzuklären, beantragte Richter Sawan bei Interpol sogenannte red notices, Aufforderungen zur Festnahme, für Gretschuschkin, Prokoschew und Jorge Moreira, einen portugiesischen Handelsagenten, der in Georgien beim Hersteller Rustavi Azot als Käufer aufgetreten war. Zur öffentlichen Fahndung wurden die drei Verdächtigen von Interpol nicht ausgeschrieben. Sawan hatte aber damit seine Pflicht getan und dazu eine Begründung dafür, warum die Ermittlungen stagnieren.

Mit diesem Stand der Dinge wollte sich der libanesische Journalist Firas Hatoum nicht zufrieden geben. Man wisse noch nicht einmal, wem das Ammoniumnitrat gehörte, kritisierte Hatoum und stellte eigene Nachforschungen an. Im britischen Firmenregister fand er heraus, dass die Londoner Adresse von Savaro Ltd. von 70 weiteren Unternehmen genutzt wird, von denen jedoch nur zwei aktiv sind. Sie gehören syrisch-russischen Geschäfts­leuten, George Haswani sowie den Brüdern Imad und Mudalal Khoury. Alle drei finden sich auf Sanktionslisten der USA, die ihnen Geschäfte im Auftrag des syrischen Diktators Bashar al-Assad vorwerfen. Das US-Finanzministerium beschuldigte Mudalal Khoury im Jahr 2015, er habe Ende 2013 versucht, Ammoniumnitrat für das syrische Regime zu beschaffen. Das ist der Zeitraum, in dem die »MV Rhosus« ihre letzte Fahrt unternahm.

Es ist nicht unüblich, dass Dutzende von Firmen den gleichen Briefkasten benutzen. Doch Hatoum hat festgestellt, dass Savaro und die Firma von Haswani ihre Registrierung unter der gleichen Adresse exakt zum selben Zeitpunkt vorgenommen haben. Beide gaben auch das gleiche Partnerunternehmen an, das mit der Abwicklung ihrer Geschäfte beauftragt sei, nämlich die Khoury-Firma.

Hatoums Recherche begründet den schwerwiegenden Verdacht, dass das Ammoniumnitrat nicht für Mosambik bestimmt war, sondern im syrischen Bürgerkrieg eingesetzt werden sollte, etwa für den Bau von Fassbomben. Für den letzten Abschnitt eines solchen Transfers kommt eigentlich nur die proiranische Hizbollah in Frage, die in Syrien an der Seite Assads kämpft und selbst mit dem billigen, aber verheerenden Sprengstoff hantiert.

Die Hizbollah ist der wichtigste Faktor im politischen Proporzsystem des ­Libanon, das die Macht unter den Führungsschichten der Schiiten, Sunniten, Maroniten und Drusen verteilt. Daher galt das Dementi ihres Generalsekretärs Hassan Nasrallah, er wisse nichts über die Vorgänge im Hafen von Beirut, von vornherein als unglaubwürdig. Um von sich abzulenken, hat Nasrallah die libanesische Armee beschuldigt, für die Lagerung des gefährlichen Materials im Hafen verantwortlich gewesen zu sein. Doch dieser Konflikt wurde rasch beigelegt und man einigte sich auf die Einsetzung der neuen Regierung – keine günstigen Bedingungen für die rich­terliche Untersuchung.