Der Arzt der Colonia Dignidad kommt in Deutschland nicht vor Gericht

Sicherer Hafen für den Sektenarzt

Folter, Missbrauch und Zwangsarbeit in der Colonia Dignidad bleiben in Deutschland bis auf Weiteres straflos. Der Arzt der deutschen Sekte in Chile, Hartmut Hopp, kommt hierzulande nicht vor Gericht.

Es war ein bitterer Tag für die Opfer der Colonia Dignidad. Am 9. Dezember lehnte die Generalstaatsanwaltschaft Düsseldorf eine Wiederaufnahme der Ermittlungen gegen Hartmut Hopp ab. Wegen Beteiligung an Mord, Körperverletzung und Beihilfe zu sexuellem Missbrauch hatte die Staatsanwaltschaft Krefeld seit 2011 gegen den früheren Leiter des Krankenhauses der Sekte ermittelt (Jungle World 10/2016). 2019 war dieses Verfahren ohne Anklageerhebung eingestellt worden. Es war das letzte noch laufende Ermittlungsverfahren in Sachen Colonia Dignidad vor der deutschen Justiz.

Die Opferanwältin Petra Schlagenhauf hatte Beschwerde gegen die Einstellung der Ermittlungen eingelegt. Ein »hinreichender Tatverdacht gegen den Beschuldigten« könne nicht begründet werden, »Beweismittel oder erfolgversprechende Ermittlungsansätze, mit denen eine Beteiligung des Beschuldigten« etwa am Mord an drei Oppositionellen in Chile im Jahr 1976 nachgewiesen werden könnten, lägen auch nach erneuter Prüfung nicht vor, teilte die Generalstaatsanwaltschaft mit.

»Deutschland schützt einen Kriminellen und verhöhnt die Opfer.« Jaime Parra, der als Kind zwei Jahre lang in der Colonia Dignidad festgehalten wurde

Das sieht die Opferanwältin anders. Mehrere von ihr aufgebotene Zeuginnen und Zeugen seien nie vernommen worden, sagt sie. »Die Ermittlungen sind nie mit der notwendigen Energie geführt worden.« Mehrere Täter seien inzwischen in den »sicheren Hafen Deutschland« geflüchtet, um der chilenischen Justiz zu entgehen. Insgesamt habe die deutsche Justiz »nicht begriffen, in welcher Dimension die Verbrechen der Colonia Dignidad stattgefunden haben«. Deren Aufklärung hätte erfordert, »sehr aufwendig und aus eigener Initiative« zu recherchieren. »Diese Bereitschaft habe ich nicht gesehen«, so Schlagenhauf.

Die 1961 am Fuß der chilenischen Anden gegründete deutsche Siedlung war ein Staat im Staate, in dem die Regeln des Sektenleiters und Laienpredigers Paul Schäfer und der ihn umgebenden Führungsgruppe galten. Die meisten der etwa 300 Bewohnerinnen und Bewohner mussten unter Strafen und Prügel, aber ohne Lohn und Sozialabsicherung arbeiten. Kinder waren Schäfers sexuellen und gewalttätigen Übergriffen ausgeliefert. In der chilenischen Öffentlichkeit unter der Diktatur des Generals Augusto Pinochet galt die Colonia Dignidad als deutsches Mustergut, sie erhielt sogar den Status der Gemeinnützigkeit, vor allem wegen des sekteneigenen Krankenhauses. Dort wurden zwar die Kranke aus der Umgebung behandelt, als widerständig geltende Sektenmitglieder wurden dort aber auch mit Elektroschocks gequält und mit Psychopharmaka ruhiggestellt. Chilenische und deutsche Behörden wussten davon spätestens seit 1966, als zwei Bewohnern die Flucht aus der abgeriegelten Siedlung gelang.

Hartmut Hopp studierte in den USA und in der chilenischen Hauptstadt Santiago Medizin. Ab 1978 leitete er das Krankenhaus der Siedlung und war ­somit verantwortlich für gefälschte Abrechnungen zu Lasten des chilenischen Gesundheitssystems und auch für die Bestellung und Verabreichung großer Mengen von Psychopharmaka.

Hopp galt als Verbindungsmann zum chilenischen Geheimdienst Dina, der während der Zeit der Militärdiktatur Pinochets ab 1973 in der Colonia Dignidad Hunderte chilenische Oppositionelle folterte. Amnesty International und die Uno berichteten 1976 beziehungsweise 1977 darüber, doch die Bundes­regierung unterhielt weiter gute Beziehungen zur Sektenführung. Dutzende Oppositionelle wurden Aussagen von Bewohnern zufolge auf dem Gelände ermordet, verscharrt, später wieder ausgegraben und verbrannt. Die Leichen wurden bisher nicht gefunden, sie bleiben »verschwunden«.

Unter den Ermordeten war möglicherweise Ricardo Troncoso Muñoz. Seine 78jährige Schwester Myrna Troncoso ist enttäuscht von der deutschen Justiz und der Einstellung aller Ermittlungsverfahren. »Es scheint am politischen Willen zur Aufklärung zu fehlen«, sagt die Vorsitzende des Angehöri­genverbandes von Verschwundenen aus der südchilenischen Region des Maule-Flusses. »Solange wir leben, fordern wir Wahrheit, Gerechtigkeit für und Erinnerung an alle Opfer der Colonia Dignidad.«

Für den 34 Jahre alten Jaime Parra ist es sehr schmerzhaft, Hopp in Deutschland straflos zu sehen. »Deutschland schützt einen Kriminellen und verhöhnt die Opfer«, sagt er. Parra ist in der Umgebung der Colonia Dignidad aufgewachsen. Als Kind wurde er zwei Jahre lang in der deutschen Siedlung festgehalten. Offiziell war er im sogenannten Intensivinternat. Eine richtige Schule sah er dort nie, stattdessen musste er arbeiten und war Schäfers sexuellen und gewalttätigen Übergriffen ausgeliefert. Hopp habe ihm Psychopharmaka verordnet. »Sie sollten mich gefügig machen«, sagt Parra. »Vor dem Einschlafen musste ich immer die Tabletten nehmen. Dann brachte mich jemand zu Schäfer. Ich kam erst viel später in Schäfers Zimmer wieder zu mir. Ich hatte Schmerzen am ganzen Körper, wusste aber nicht, was passiert war.« Dass die deutsche Justiz sage, es gebe keine Hinweise auf Hopps Schuld, kann er nicht fassen: »Wir selbst sind die Beweise für seine Verantwortung.«

Der Oberste Gerichtshof Chiles verurteilte Hopp 2013 wegen Beihilfe zu sexuellem Missbrauch und Vergewaltigung von Kindern rechtskräftig zu fünf Jahren Haft. Doch dieser hatte sich 2011 nach Deutschland abgesetzt und so einer möglichen Strafverfolgung entzogen. Seitdem lebt er unbehelligt in Krefeld (Nordrhein-Westfalen). Als deutscher Staatsangehöriger wird er nicht nach Chile ausgeliefert. Ein Antrag des südamerikanischen Landes, seine chilenische Haftstrafe in Deutschland zu vollstrecken, wurde 2018 abgelehnt.

Rechtsanwalt Hernán Fernández ­vertritt Parra in Chile. »Da die deutsche Justiz keine angemessene Antwort auf die Verbrechen der Colonia Dignidad findet, bleibt nur noch der Weg der internationalen Gerichtsbarkeit«, sagt er, beispielsweise der Gang zum Europä­ischen Gerichtshof für Menschenrechte. 2019 äußerte sich bereits der Antifolterausschuss der Uno in seinem Bericht zur Umsetzung der UN-Antifolterkonvention sehr besorgt, dass das Verhalten Deutschlands die Straflosigkeit von Folterern fördere.

2017 hatte der Bundestag einstimmig beschlossen, die Bundesregierung solle die Verbrechen der Colonia ­Dignidad aufarbeiten. Denn deutsche Behörden wussten von Folter, Missbrauch und Zwangsarbeit in der Colonia Dignidad – und duldeten diese Zustände jahrzehntelang. Zwar erhielten einige Opfer der Sekte inzwischen Hilfszahlungen von jeweils 7000 Eu­ro vom deutschen Staat; für ein von der Bundesregierung finanziertes »Oral-History Archiv« führt das Lateinamerika-Institut der Freien Universität Berlin Videointerviews mit Zeitzeuginnen und -zeugen. Doch es gibt weder eine ange­messene juristische Aufarbeitung noch eine Gedenkstätte auf dem Gelände der Siedlung. Solange es dabei bleibt, dominieren Immobilienfirmen, eine Hühnerfarm und der Tourismusbetrieb mit Zapfbier und bayerischer Schweinshaxn das Bild der Siedlung, die sich seit 1988 »Villa Baviera«, also »Baye­risches Dorf«, nennt.