Digitale Sexualverbrechen sind in Südkorea weit verbreitet

Erpresst und ausgebeutet

In Südkorea wurde der Anführer eines Rings verurteilt, der degradierende und teilweise brutale Bild- und Videoaufnahmen von mindestens 76 Frauen über Telegram vertrieben hatte.

Das Urteil war für südkoreanische Verhältnisse ungewöhnlich hart. Am Donnerstag voriger Woche verurteilte ein Bezirksgericht in Seoul Cho Ju-bin, den Drahtzieher eines online tätigen Rings, der Frauen zwang, erniedrigende Sexvideos von sich zu erstellen und zu teilen, zu 40 Jahren Haft. Der 25jährige, so das Gericht, habe unter anderem gegen Gesetze verstoßen, die Kinder vor sexuellem Missbrauch schützen sollen, und eine kriminelle Bande angeführt, die Videos von sexuellem Missbrauch und Vergewaltigungen verkauft habe. Im März hatte Chos Verhaftung für großes Aufsehen in Südkorea gesorgt.

Seit 2018 kursierten in geheimen Chat-Räumen des Messenger-Diensts Telegram Bild- und Videoaufnahmen von mindestens 76 Frauen, darunter 16 Minderjährige. Mindestens 10 000 Personen zahlten bis zu 1,5 Millionen Won (umgerechnet rund 1 130 Euro), um Zugriff auf das Bildmaterial zu erhalten. Je »härter« das Material war, desto höher war der Preis. Medienberichten zufolge wurden auch Videos von Vergewaltigungen in den Chat-Räumen geteilt.

Die Täter kontaktierten die meisten Opfer zunächst über soziale Medien mit falschen Jobangeboten, etwa für einen Escort-Service.

Das Gericht verurteilte drei Komplizen Chos zu Haftstrafen von fünf bis 15 Jahren, zwei Käufer wurden zu sieben beziehungsweise acht Jahren Haft verurteilt. Die Komplizen hatten geholfen, die Chatrooms zu bewerben, das Geld von den Nutzern einzutreiben sowie die Opfer zu finden und zu erpressen. Die Täter wendeten perfide Strategien an, um an das Material zu kommen. Sie kontaktierten die meisten Opfer zunächst über soziale Medien mit falschen Jobangeboten, etwa für einen Escort-Service. Dann versprachen sie ihnen unter anderem Geld, um an persönliche Informationen zu kommen. Schließlich brachten sie die Opfer Schritt für Schritt, teilweise unter Drohungen, dazu, persönliche Informationen zu veröffentlichen und immer degradierendere und teilweise brutale Aufnahmen von sich zu machen.

In Südkorea gab es in den vergangenen Jahren immer wieder Proteste gegen digitale sexuelle Übergriffe. 2018 demonstrierten Zehntausende gegen die Verbreitung sogenannter Molka-Aufnahmen (von englisch mole camera, gemeint sind heimliche Videoaufnahmen auf öffentlichen Toiletten und an anderen Orten), laxe Ermittlungen und milde Strafen für die Täter (Jungle World 8/2020). Nach Chos Verhaftung unterschrieben fünf Millionen Menschen Petitionen, die unter anderem forderten, den vollen Namen des Hauptverdächtigen öffentlich zu machen; ein Polizeiausschuss gab diesem Begehren nach und machte neben dem Namen von Cho Ju-bin später auch den Namen eines Mittäters publik.

Ende April verabschiedete das südkoreanische Parlament mehrere Gesetze gegen digitale Sexualverbrechen. Diese sehen bis zu drei Jahre Haft oder eine Geldstrafe von über 20 500 Euro für Besitz, Kauf, Lagerung und Wiedergabe von illegal hergestelltem sexuellem Bildmaterial unter Strafe; der Besitz solchen Materials war zuvor nicht strafbar. Sie ermöglichen es zudem erstmals, ­Internetseiten, die solches Material zur Verfügung stellen, haftbar zu machen. Telegram kann jedoch nicht strafrechtlich zur Verantwortung gezogen werden, da die Firma ihren Sitz auf den Seychellen hat.

Bürger- und Frauenrechtsorganisationen in Südkorea kritisieren, dass die neuen Gesetze keine Mindest-, sondern lediglich Maximalstrafen enthalten. Das ermögliche es den Gerichten, selbst bei schweren Straftaten nur milde Strafen zu verhängen. Es war bereits zuvor verbreitete Rechtspraxis, Täter eher zu geringen Strafen zu verurteilen. Der Fernseh- und Radiosender SBS News berichtete, 2019 seien 92 Prozent der Verurteilten wegen sexueller Ausbeutung von Kindern und Jugendlichen mit Geldstrafen von durchschnittlich rund 2 200 Euro bestraft worden.

Viele Opfer sexueller Gewalt berichten von respektlosem und retrauma­tisierendem Verhalten in Polizei- und Justizbehörden. Deren Personal wird Frauenrechtsorganisationen zufolge kaum geschult und hat sexistische Einstellungen, die das Verhalten gegenüber den Opfern prägen. Zudem erschwere ein strenges Gesetz gegen Verleumdung die Strafverfolgung von Sexualdelikten. Diesem zufolge können Opfer sexueller Gewalt auch dann verurteilt werden, wenn erwiesen ist, dass ihre publik gemachten Vorwürfe wahr sind. Das Gesetz sieht in diesem Fall eine Haftstrafe bis zu drei Jahren und eine Geldstrafe bis zu 15 000 Euro vor. Es kann dazu führen, dass Opfer sexueller Gewalt härter bestraft werden als die Täter.

Die südkoreanische Gesellschaft ist patriarchal geprägt, Gewalt gegen ­Frauen ist weit verbreitet. Mehr als die Hälfte aller Mordopfer in Südkorea sind Frauen, Foreign Policy zufolge eine der höchsten Raten weltweit. In einer Studie der nationalen Hotline gegen Gewalt an Frauen von 2014 berichteten über 90 Prozent der Befragten, ihr Partner übe körperliche oder emotionale Gewalt gegen sie aus. Zudem sind Frauen wirtschaftlich deutlich benachteiligt. Dem Global Gender Gap Report 2020 des Weltwirtschaftsforums zu­folge liegt Südkorea auf Platz 127 von 153, was die ökonomische Gleichberechtigung der Geschlechter angeht.

Viele Opfer des von Cho angeführten Rings befürchten, dass die Bilder niemals aus dem Internet verschwinden werden und sie ihr ganzes Leben lang mit der Angst leben müssen, erkannt zu werden.