Retrospektive in Berlin: »Walk on the Wild Side – Die Filme von Bertrand Bonello«

Historiographie der Unterirdischen

Die Filme des französischen Regisseurs Bertrand Bonello erzählen von Sex, Revolution und Resignation und fangen dabei die seltenen Momente der Freiheit ein.

In der 1958 erschienenen Novelle »The Subterraneans«, einer Liebesgeschichte und Autobiographie, die dennoch beides nicht so ganz ist, schreibt der Beat-Autor Jack Kerouac: »Sie sind hip, aber nicht raffiniert, sie sind intelligent, aber nicht sentimental, sie sind verflucht intellektuell, aber sie sind nicht anmaßend und reden nicht dauernd darüber, sie sind sehr still, sie sind Christus sehr ähnlich.« Sie, das sind die Unterirdischen, jene verlorene Nachkriegsgeneration von noch erfolglosen Künstlern, Trinkern und Süchtigen, die darauf warten, dass endlich Geschichte gemacht wird.

Es ist jener Zustand des Unterirdischen, der das Kino des 1968 in Frankreich geborenen Bertrand Bonello kennzeichnet – Geschichte, die ihrer Verwirklichung harrt. Es sind die Betäubten, Verfluchten, Verblendeten, die Prostituierten, Por­nographen, Revolutionäre, die Bonellos Filme bevölkern. Figuren, die sich langsam aus dem Raum hervorschälen, wie Verschüttete unter Schichten von Geröll. Das geschieht in vor- und zurückwandernden Schwenks, die im Raum keinen Ruhepol finden wollen, in ruhigen Einstellungen, die ihren anvisierten Gegenschuss plötzlich fallen lassen, und in bisweilen kreisend-eskalierenden Steadycamshots. Es sind Figuren, die darauf hoffen, die Verkrustungen um sie herum aufzubrechen, alle weltlichen Bannzauber abzuwerfen und die doch niemals historische Subjekte werden. Die sogar resignieren, deren Handlungen sprunghaft und repetitiv werden, die sterben oder jegliches Interesse an Gesellschaft und historischem Fortschritt verlieren.

Bonellos Filme werden seit Anfang Oktober im Berliner Kino Arsenal in einer Retrospektive unter dem Titel »Walk on the Wild Side« gezeigt. Sein großartiger jüngster Film, »Zombi Child« von 2019, ist eine ­wagemutige Synthese von Teenagerdrama und Jacques Tourneurs wehmütigem Spielfilm »I Walked with a Zombie« (1943). Er erzählt parallel von der historisch mehr oder weniger verbürgten Odyssee des Haitianers Clairvius Narcisse, der in den Sechzigern mutmaßlich durch organische Nervengifte zum Zombie ­gemacht wurde und fortan auf Zuckerrohrplantagen Zwangsarbeit verrichten musste, bis er entfliehen konnte, sowie von seiner Enkelin, die als einzige schwarze Schülerin auf ein Pariser Eliteinternat kommt.
Bonellos Zombie ist nicht der apokalyptische Zombie aus den Filmen George A. Romeros. Ihn inte­ressiert der Zombie aus kulturanthropologischer Sicht und als historische Metapher für die von der Kolonialmacht befreite und gleich ins nächste Ausbeutungsverhältnis gestürzte Republik Haiti. Zu Anfang doziert ein Geschichtslehrer vor seinen Schülern, die im heutigen Paris ihren ganz eigenen Mythen des Alltags (Rap und sozialen Medien) verfallen sind: »Wie die Idee des Fortschritts auf die Freiheit bezogen wird, verhindert der Liberalismus die Freiheit. Ich schlage Ihnen eine diskontinuierliche, sprunghafte Geschichte vor, eine, die zögert. Die auch eine unterirdische Geschichte der Konzep­tion von Freiheit wäre. Die immer wiederkehren würde und manchmal in Erfahrungen von Freiheit münden würde.«

In Bonellos zweitem Film »Le Pornographe« von 2001 spielt Jean-Pierre Léaud den alternden Pornofilmer Jacques Laurent. Dieser erzählt, als sich der Algerien-Krieg 1958 in vollem Gange befand, sei er noch zu jung für die Politik gewesen. 1968 habe er während der Pariser Maiunruhen dann seinen ersten Pornofilm gedreht. Jacques gegenüber sitzen in dieser Szene ein paar Mittzwanziger, die Mitbewohner seines Sohns, allesamt Nachwuchsrevolutionäre. Doch unter ihnen herrscht Ratlosigkeit darüber, wie es mit dem Befreiungskampf weitergehen soll; letztlich schließen sie alle ein Schweigegelübde, ihre ultima ratio des politischen Protests. Jacques wiederum hadert mit der veränderten Pornolandschaft des neuen Jahrhunderts. Verschwunden ist die Lockerheit der Sechziger, die politische Grundierung, die Zeit, um zwischen den Takes zusammen Kaffee zu trinken, zu rauchen und über Liebe zu diskutieren.

»L’Apollonide: Souvenirs de la maison close« aus dem Jahr 2011 erzählt von einem Pariser Edelbordell, das seinen zwölf Prostituierten im ausgehenden 19. Jahrhundert scheinbar als Rückzugs- und Schutzraum vor politischem und sozialem Unheil dient, nur um sie diesem umso gnadenloser preiszugeben. Den Alltag bestimmen neben Champagnerbädern Antisemitismus, sadistische Freier und die ständige Angst, sich bei der Geschäftsführung zu verschulden und dann nicht mehr aus der Prostitution aussteigen zu können. Eine junge Neue sagt im Vorstellungsgespräch tapfer, sie wolle unabhängig und frei leben, woraufhin ihr erwidert wird, dies sei ein Freudenhaus, die Freiheit gebe es draußen. Wo dieses Draußen liegt und wie es aussehen könnte, da hält sich der Film weitgehend bedeckt – bis auf zwei Momente, in denen sich der Raum und die historischen Schichten auftun. Da ist zum einen ein kurzer Sommertag am Badesee, ohne Herleitung und Wegbeschreibung hin oder zurück, zum anderen eine Szene, in der die Frauen zu The Moody Blues’ Pophit »Nights in White Satin« von 1967 tanzen.

Um fatale Fehleinschätzungen geht es hingegen in »Nocturama« von 2016. Die Nachwuchsrevolutionäre dieses Films haben sich dazu verstiegen, gesellschaftliche Befreiung durch eine Reihe von Bombenattentaten herbeizuzwingen. Nach den Detonationen trifft die Gruppe sich abends in einem geschlossenen Luxuskaufhaus und wartet. Während das Warten auf die bessere Welt und die Furcht vor der Polizei an den Nerven zerren, bekommt das Luxuskaufhaus eine unheimliche Strahlkraft. Langsam sickert die Erkenntnis durch, dass man der Warenform anstatt durch Bombenattentate besser durch ästhetische Sprengung beikommen sollte. Zu spät. In Anlehnung an Charlie Chaplins dadaistische Gesangsnummer aus »Modern Times« performt einer der Jungs in Drag pantomimisch Shirley Basseys Version von »My Way«. Ein kurzer Moment vor dem Finale, in dem sich die Gesichtszüge aller entspannen.
Geschichte, die unterirdisch ihrer Verwirklichung harrt, ist bei Bonello selbstverständlich auch die Filmgeschichte. Hier zitiert er Chaplin, dort Antonioni, danach Truff­aut und immer wieder Jacques Tourneur. Die jüdische Prostituierte in »L’Apollonide« darf schließlich doch noch Rache an ihrem Peiniger nehmen. Dabei spielt ein schwarzer Panther eine Rolle, ganz in der Manier von Jacques Tourneurs »Cat People« (1942). Wo die Unterirdischen verschüttet zu werden drohen, springt die Filmgeschichte ihnen bei.

Wo eben noch der Panther war, zeigt die nächste Großaufnahme eine campy Madonnenfigur. Die letzten Einstellungen folgen einer Prostituierten, die über einen trostlosen Straßenstrich im Paris der Gegenwart irrt. Unterlegt sind die Bilder mit Lee Moses’ Soulklassiker »Bad Girl«: »They call her bad girl, all because she wanted to be free.« Das ist nicht prätentiös, man denkt vielmehr zurück an Kerouacs Unterirdische: hip, aber nicht raffiniert, intelligent, aber nicht sentimental, verflucht intellektuell, aber nicht anmaßend.

Bonellos Filme stehen für ein Kino, dem die öffentlichen Grenzbereiche des bürgerlichen Alltags ­immer noch Grund genug sind, um loszudrehen: in Parks, Bars, Straßencafés, der U-Bahn, dem Bordell und auf dem Strich. Orte, die heutzutage eigentlich kaum einer mehr filmt, obwohl sie doch direkt vor der Nase liegen. Ein Kino, das wie die Nouvelle Vague der Sechziger von Sex und Gewalt, von Revolution und Resignation erzählt und im besten Fall eine Handvoll jener seltenen Momente von Freiheit einfängt. Und diese Momente sind wichtig, sie gilt es ästhetisch am Leben zu halten. Damit Geschichte, die unterirdisch ihrer Verwirklichung harrt, letztlich Wirklichkeit werden kann.

 

Die Retrospektive »Walk on the Wild Side – Die Filme von Bertrand Bonello« läuft noch bis zum 25. Oktober im Berliner Kino Arsenal.