Der Streit über Kopftücher bei Amtshandlungen

Remonstrieren für die Neutralität

Über die Zukunft des Berliner Neutralitätsgesetzes wird weiterhin heftig gestritten. Auch Richter und Staatsanwälte lehnen die von Justizsenator Dirk Behrendt vorangetriebene Abschaffung des Gesetzes ab.

Der Berliner Justizsenator Dirk Behrendt (Grüne) ist kein Freund des Berliner Neutralitätsgesetzes – das dürfte hinlänglich bekannt sein. Seit einem Urteil des Landesarbeitsgerichts Anfang 2017, das einer abgelehnten, im Unterricht kopftuchtragenden Lehramtsbewerberin Entschädigungszahlungen zusprach, hat der Berliner Justizsenator mit Verweis auf »Antidiskriminierung« mehrfach öffentlich angekündigt, die Abschaffung des Gesetzes voranzutreiben. Bereits in der Vergangenheit sorgte die Frage für Streit in Senat und Abgeordnetenhaus (Klassenziel Kopftuch - Jungle World 5/2018). Behrendts offen artikuliertes politisches Vorhaben – eine Änderung des Gesetzes fiele in den Aufgabenbereich des Abgeordnetenhauses – könnte für den Justizsenator nun zum Problem werden. Denn jüngst regte sich offener Widerstand auch in Behrendts eigenem behördlichen Zuständigkeitsbereich.

Im September führte am Amtsgericht Berlin-Tiergarten erstmals eine Referendarin mit Kopftuch für die Staatsanwaltschaft einen Prozess.

So brachte der Hauptrichter- und Staatsanwaltsrat (HRSR), einer der Gesamtpersonalräte der Berliner Landesjustiz, Berichten des Tagesspiegel zufolge Mitte September in einem Schreiben an sämtliche Berliner Gerichte und Staatsanwaltschaften die Möglichkeit der Remonstration ins Spiel, die im deutschen Beamtenrecht geregelt ist. Dort besteht ein Recht wie auch die Pflicht, Weisungen, die geltendem Recht widersprechen könnten, abzulehnen beziehungsweise nicht ungeprüft auszuführen. Dem Schreiben des HRSR zufolge lehnen die zuvor angehörten Richterinnen und Staatsanwälte eine Anordnung des Kammergerichtspräsidenten und des Gemeinsamen Juristischen Prüfungsamtes (GJPA), re­ligiöse Kleidung und Symbole in der Ausbildung bei ­Gericht zuzulassen, einhellig ab und halten diese für verfassungswidrig.

Seit August erlaubt diese Anordnung der beiden für die praktische Ausbildung zuständigen Einrichtungen, dass beispielsweise Rechtsreferendarinnen mit Kopftuch im Gerichtssaal tätig werden – ­allerdings unter Auflagen: ohne selbst Robe zu tragen, wie sonst für Referendare üblich, und mit einem Ausbilder neben sich, der als solcher erkennbar ist. Am 9. September führte am Amtsgericht Tiergarten erstmals eine Referendarin mit Kopftuch für die Staatsanwaltschaft einen Strafprozess.

Für diesen Aufgabenbereich gilt die Berliner Regelung zur staatlichen Neutralität. Das Neutralitätsgesetz verpflichtet Beamtinnen und Beamte der Rechtspflege, im Justizvollzugs- und Polizeidienst, ebenso wie Lehrkräfte und Pädagogen an öffentlichen Schulen, »innerhalb des Dienstes keine sichtbaren religiösen oder weltanschaulichen Symbole« und »keine auffallenden religiös oder weltanschaulich geprägten Kleidungsstücke« zu tragen, die »eine Zugehörigkeit zu einer bestimmten Religions- oder Weltanschauungsgemeinschaft demonstrieren«. Die Neutralität des Staats soll gemäß der Präambel Bürgerinnen und Bürger da schützen, wo sie »in besonderer Weise dem staatlichen Einfluss unterworfen« sind. Die Anordnung seitens Kammergericht und GJPA bezieht sich auf eine Regelung im Gesetz, wonach es möglich sei, für Auszubildende Ausnahmen vom Neutralitätsgebot zu regeln.

Trotz des Einspruchs des HRSR besteht die neue Praxis weiterhin, wie eine Nachfrage der Jungle World bei der ­Senatsverwaltung für Justiz ergab. Die Stellungnahme des HRSR habe man »zur Kenntnis genommen«. Ob bereits Ausbilder bei der Staatsanwaltschaft vom Remonstrationsrecht Gebrauch gemacht hätten, sei nicht bekannt, teilte der Sprecher der Senatsverwaltung, Sebastian Brux, mit.

Der HRSR sowie Abgeordnete aus der Opposition und der Regierungskoalition schreiben die politische Entscheidung für die neue Verwaltungspraxis dem Justizsenator zu. Der rechtspolitische Sprecher der SPD-Fraktion, Sven Kohlmeier, richtete sich in einer Abgeordnetenhausdebatte am 3. September an den Justizsenator: »Die Regelung, die Sie nicht erlassen haben, weil sie natürlich – formaljuristisch korrekt – der Präsident des Kammergerichts und der Präsident des GJPA erlassen haben, kommt relativ überraschend zu einem Zeitpunkt, der – was ich vorsichtig sage – unglücklich ist in Hinblick darauf, welche Verabredung Sie im Senat hatten.«

An dem Tag sollten vorrangig die Auswirkungen des Urteils des Bundesarbeitsgerichts (BAG) vom 27. August (»Unheilige Koalition« - Jungle World 36/2020) debattiert werden. Die Berliner Bildungssenatorin Sandra Scheeres (SPD) war in einem Berufungsverfahren zur Diskriminierungsklage einer abgewiesenen kopftuchtragenden Lehramtsbewerberin vor dem BAG gescheitert. Der Senat hatte eine Art Koalitionsfrieden in der Frage des Neutralitätsgesetzes bis zur Veröffentlichung der schriftlichen Urteilsbegründung vereinbart, die noch nicht vorliegt. Scheeres zieht in Erwägung, vor den Europäischen Gerichtshof zu ziehen.

Justizsenator Behrendt hatte am 2. September eher beiläufig am Ende der Rechtsausschusssitzung bekanntgegeben, religiöse Kleidungsstücke wie das Kopftuch bei Referendarinnen vor Gericht zuzulassen. Die CDU stellte daraufhin einen Dringlichkeitsantrag, in dem sie den Senat mit Verweis auf das geltende Neutralitätsgesetz aufforderte, die Zulassung zu unterlassen. Als »Akt exekutiver Arroganz und Überheblichkeit« kritisierte der rechtspolitische Sprecher der CDU-Fraktion, Sven Rissmann, das Vorgehen des Justizsenators, dem er die Missachtung des Parlaments in staatlichen Grundsatzfragen wie der des Neutralitätsgebots vorwirft.

Auch in der rot-rot-grünen Regierungskoalition blieb Kritik nicht aus. »Klar ist auch – und das wissen auch alle Juristen, das weiß auch der Senator für Justiz –, dass das Berliner Neutra­litätsgesetz gerade nicht für verfassungswidrig erklärt wurde«, betonte Kohlmeier in der Abgeordnetenhausdebatte. Die SPD stehe weiter zum Neutra­litätsgesetz.

In der Berliner Bevölkerung ist die Zustimmung zum Neutralitätsgesetz weiterhin groß. Wie eine repräsentative Forsa-Umfrage im vergangenen Jahr ergab, befürwortet eine Dreiviertelmehrheit der Befragten das Gesetz. Die Ver­einigung Berliner Staatsanwälte (VBS) spricht sich ebenso für eine strikte Beibehaltung der staatlichen Neutralität aus wie der Interessenverband Berliner Schulleitungen e. V.

Dem fragilen rot-rot-grünen Burgfrieden zum Thema drohen weitere Erschütterungen. In der Fraktion der Linkspartei mehren sich Stimmen gegen das Gesetz, und am 25. September beschloss die »Grüne Frauen*­Konferenz«, das frauenpolitische Gremium der Berliner Grünen, die Forderung, das Neutralitätsgesetz abzuschaffen, bei nach der nächsten Wahl 2021 möglicherweise anstehenden Sondierungs- und Koalitionsverhandlungen zur »besonderen Priorität« zu erklären.