Mariken Wessels fotografiert Frauen unter Wasser

Gegen die Schwerkraft

Die Künstlerin Mariken Wessels hat ein Buch herausgebracht, für das sie übergewichtige Frauen unter Wasser fotografierte. Sie bezieht sich damit auf einen der Erfinder der Chronofotografie, Eadweard Muybridge.

Bettie Pumpkin, 150 Kilogramm. Marieke Oldenburger, 130 Kilogramm. Auf einer Abbildung im neuen Fotobuch der niederländischen Künstlerin Mariken Wessels sind noch die Reste einer Mail zu erkennen, die sie auf ihrer Suche nach korpulenten Frauen erhielt, die sich für sie unter Wasser fotografieren lassen würden. Für diese Serie mit dem Titel »Miss Cox« ließ Wessels sich von dem britisch-amerikanischen Fotografen Eadweard Muybridge inspirieren. Muybridge revolutionierte gegen Ende des 19. Jahrhunderts die Fotografie durch seine intensiven und umfangreichen Körperbewegungsstudien und zählt zu den Mitbegründern der Chronofotografie, also der fotografischen Dokumentation von Bewegung. Seine bekannteste Serie ist wohl die, in der er ein Pferd fotografierte, um herauszufinden, ob es im Galopp zu ­irgendeinem Zeitpunkt alle Hufe gleichzeitig in der Luft hat (Antwort: ja). Doch auch seltsame Verhaltensstudien wie etwa die Serie eines Mannes, der sich überrascht umdreht und wegrennt oder zweier Frauen, die gleichzeitig aus einem Bottich Wasser trinken, gehören zu seinem Werk.

Die Frauen scheinen auf den Fotos von Mariken Wessels genüsslich und desinteressiert herum­zu­schweben, ihre Körper formen sich unter dem Druck des Wassers zu weichen, wallenden Leibern.

Mariken Wessels erwarb bei einer Auktion die Platte 286 »Arising from the Ground«, auf der eine beleibte nackte Frau im Jahr 1885 auf Muy­bridges Anweisungen hin zunächst auf dem Boden liegt, um sich dann wieder zu voller Körpergröße auf­zurichten. Diesem einfachen Vorgang wohnt bei näherer Betrachtung eine implizite Grausamkeit inne. Es zeigt sich ein stummer Kampf des Körpers mit der Schwerkraft, der durch die serielle Aufnahme nochmals gnadenlos ­verlangsamt wird.

Wessels fragte sich zu Recht, ob sich die Frau, mutmaßlich eine Miss Cox, in Muybridges Anwesenheit wohlgefühlt habe. Muybridge hatte elf Jahre zuvor in San Francisco aus Eifersucht den Liebhaber seiner Ehefrau ermordet und war – entgegen den herrschenden Gesetzen – wegen »rechtfertigbarem Totschlag« (justifiable ­homicide) freigesprochen worden. Darüber hinaus lässt sich aus den Notizen über die Modelle seiner anderen Studien auf ein eher düsteres Frauenbild schließen: Während bei männlichen Modellen ausnahmslos der volle Name und Beruf genannt wurde, notierte er bei den Frauen ­lediglich Körpermaße, Gewicht und Alter. Es liegt etwas Obsessives in Muybridges Aufnahmen, allein die enorme Anzahl an Bildern, die er von Miss Cox anfertigte, lässt darauf schließen.

Wessels Interesse für Charaktere mit Obsessionen ist nicht neu. In ­ihrem vorhergegangenen Fotobuch »Taking off. Henry My Neighbor« gibt sie tiefe Einblicke in die Welt von Henry, einem Amateurfotografen aus New Jersey. Henry schoss in einem Zeitraum von mehreren Jahren über 5 000 Fotografien seiner nackten Frau Martha in ihrer gemeinsamen Wohnung. Es schien ihm schier unmöglich, seine Frau nicht durch den Sucher der Kamera anzuschauen. Selbst als Martha offensichtlich die Nase voll von ihrem Mann hatte und in einer eindrucksvollen Aktion nahezu sein gesamtes Œuvre aus dem Fenster schmiss, hielt er diesen Moment fotografisch fest.

Mariken Wessels, die vor ihrer Karriere als Künstlerin viele Jahre als Schauspielerin am Theater arbeitete, interessiert sich insbesondere für die Geschichten hinter ihren Sujets. Während Henrys weiteres Leben einigermaßen bekannt ist (nach Marthas Abgang fertigte Henry noch ein Weile verstörende Collagen und Tonfiguren an, um sich dann für den Rest seines Lebens in einem Haus im Wald zu isolieren), ist über Miss Cox so gut wie nichts überliefert. Ist Wessels Auseinandersetzung mit ihr anfänglich noch geprägt von empathischen Fragen nach ihrem Leben und ihrem Befinden in Muybridges Anwesenheit, konzentriert sie sich im Laufe der Arbeit immer stärker auf ihren Körper als formbare Masse und als »Landschaft«. Dafür fertigte sie riesige Tonskulpturen an und fotografierte beleibte Frauen unter ­Wasser. Wessels gelingt es damit eindrucksvoll, ein ambivalentes Geflecht aus distanzierter Abstraktion und fragmentarischer, unaufdringlicher Nähe zu Miss Cox zu knüpfen.

Während in den Fotografien von Muybridge die offensichtlich nur unter großen Anstrengungen vollbrachten Bewegungen der Frau ­gnadenlos seziert werden, befreit Wessels ihre Modelle in ihren Unterwasserfotos von der niederdrückenden Schwerkraft. Die Frauen scheinen genüsslich und desinteressiert herumzuschweben, ihre Körper formen sich unter dem Druck des Wassers zu weichen, wallenden Leibern. Auch die sichtliche Verletzbarkeit durch die Nacktheit der Frau in Muybridges Bildern verschwindet bei Wessels im Wasser: vielmehr wirken die Leiber der Frauen hier wie machtvolle Skulpturen. Sind die Tonskulpturen noch den formenden Händen Wessels ausgeliefert, in ihrer materiell fühlbaren Schwere noch greifbarer, wirken die Körper unter Wasser gelöst und leichter. Die nur selten auf­tauchenden Gesichter und Blicke der Modelle erscheinen erschrocken bis teilnahmslos gelassen. Auch tauchen plötzlich mehrere Körper in einem Bild auf, die Leiber erscheinen aneinander angeschmiegt im sanften Rhythmus des Wassers gemächlich zu tanzen und sich berührungslos zu umarmen.

»Miss Cox« ist auch deshalb so vielschichtig, weil Wessels ihren Produktionsprozess offenlegt. Neben den Unterwasserfotografien und Skulpturen werden Einblicke in ihr Studio in Amsterdam gewährt. Fotografien von sich türmenden Collagen auf ihrem Schreibtisch und an den Wänden, kleine Tonmodelle wie auch Textfetzen zum Thema fat shaming sind erkennbar. In verschiedenen ­Interviews wurde Wessels zaghaft bis rhetorisch immer wieder gefragt, ob der neuen Interpretation von Miss Cox unter Wasser im Gegensatz zu Muybridges durchrationalisierter Her­angehensweise auch ein feministisches Anliegen innewohne. Wessels verneinte dies nüchtern jedes Mal aufs Neue (»interesting, but not the goal«). Nein, die »soziale Frage« habe sie bei diesem Projekt nie interessiert, eine feministische Perspektive würde sie nur in ihrer künstlerischen Freiheit einschränken. Wichtig seien ihr Fragen nach Formbarkeit, dem Körper als Landschaft sowie den tierischen Aspekten des menschlichen Körpers (ab und zu erscheinen bei den Studioaufnahmen vergilbte Abbildungen von Walrössern und ­Robben) gewesen. Die Leiber in »Miss Cox« sind als kopflose Tonskulpturen und halbblinde Unterwassermodelle weitestgehend entfremdet.

Nun bedarf es zwar einerseits ­großer Scheuklappen, um den Akt des Zur-Schau-Stellens eines weiblichen Körpers, der nicht der verbreiteten Norm entspricht (kurz: der beleibte bis adipöse Körper), gänzlich frei von jedem feministischen Anliegen zu verstehen; anderseits überwiegt in dem Buch der Aspekt der Erforschung von Leibesformen in einer derartig offensichtlichen und eleganten Ehrfürchtigkeit, dass es eines derartigen Framings tatsächlich nicht bedarf.

Mariken Wessels: Miss Cox. Fw:Books, ­Amsterdam 2020, 64 Seiten mit zahl­reichen Abbildungen in Farbe, 30 Euro