Ein Gespräch mit der Stadtgeographin Anke Strüver über die Auswirkung der Covid-19-Pandemie auf das städtische Leben

»Die Chance wurde zu wenig genutzt«

Anke Strüver ist Professorin für Sozial- und Wirtschaftsgeographie an der Karl-Franzens-Universität Graz. Die »Jungle World« sprach mit ihr über das Potential der Coronakrise, das Leben in europäischen Großstädten zu verändern.
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Wie hat die Pandemie das Leben in Großstädten beeinflusst?

Die zwei zentralen Qualitäten von Urbanität sind ja Dichte und Anonymität. Die waren in ihrer ganzen Ambivalenz plötzlich ein großes Problem: große Familien, die auf beengtem Raum ohne Außenflächen wie Balkon oder Garten wohnen, auch die dichte Bebauung und die Übernutzung von Grünräumen sowie die Enge auf Fuß- und Radwegen. Hinzu kam, dass die Anonymität anfangs aufgehoben wurde. Plötzlich hat man angefangen, sich umeinander zu kümmern und mit Leuten zu sprechen, die man sonst wahrscheinlich übersehen hätte. Dieser Widerspruch zwischen Dichte und Anonymität ist erhalten ­geblieben, aber er hat sich in seinen Qualitäten umgekehrt – gerade während des lockdown.

Braucht es mehr öffentlichen Raum?

Ja, definitiv. In Graz waren zumindest die Parks nicht geschlossen, aber Spielplätze waren konsequent abgesperrt. Als alle wieder nach draußen durften, war es viel zu voll. Die Leute drängeln sich aneinander vorbei, anstatt zu schlen­dern oder auch die bereits im Normalzustand notwendige Rücksicht zu nehmen. Daran hat man gesehen, wie groß das Bedürfnis nach Bewegung und Frischluft ist und dass es viel zu wenig Raum für solche ja eigentlich grundlegenden Aktivitäten gibt. Öffentliche Freiflächen müssten zudem viel stärker nach verschiedenen Nutzungsbedürfnissen gegliedert sein.

Ist die Pandemie eine Chance für eine Umgestaltung der Städte, um mehr Gerechtigkeit zu schaffen?

Ich dachte in der Zeit des lockdown: Wow, es wäre gerade so vieles möglich. Wir befanden uns in der Generalprobe für nachhaltiges Alltagsleben – nur kam es seitdem leider nicht zu einer Premiere. Im Bereich der Verkehrsflächengerechtigkeit gibt es ein paar Vorreiter wie Brüssel, wo die Autos aus der Innenstadt verbannt wurden. Aber europaweit wurde die Chance zu wenig genutzt. Die politischen Prozes­se sind zu langsam, etwa weil man darüber verhandelt, wie breit neue Fahrradwege sein sollen. Wenn man sich mit so etwas zu lange aufhält, dann ist einfach der Moment vorbei.

Was wären wichtige Maßnahmen gewesen?

Eine Infrastruktur für nachhaltige Mobilitätsformen auf- oder auszubauen, insbesondere für aktive Mobilität. Sehr viele Leute sind zum ersten Mal seit 20 Jahren wieder mit dem Rad gefahren. Hier hätte man eine Infrastruktur schaffen müssen, die vermittelt: Radfahren ist gesund, cool und nachhaltig. Münster in Deutschland hat das ganz gut umgesetzt, dort wurden Straßenspuren rot markiert und somit als Radwege ausgewiesen. Vielen ist auch klar geworden, wie Frei- und Grünflächen ausgestattet sein müssen, damit sie gut nutzbar sind. Als die Spielplätze im Juni wieder offen waren, haben viele festgestellt, dass es zu wenig Beschattung gibt. Begrünung fungiert zudem auch als Kühlung im Hinblick auf den Klimawandel und schafft auf einfache Weise qualitativen Mehrwert.

Welche geschlechterspezifischen Folgen hat die Pandemie?

In Lebensgemeinschaften mit Kindern, wo es nachweislich immer eine Per­son gibt, die viel mehr im Haushalt macht und sich verantwortlich fühlt, haben sich klassische Muster wieder etabliert. Viele Frauen, wenn sie auch Mütter sind, haben beispielsweise ihre bezahlte Arbeit überwiegend nachts und auf einem Klappstuhl im Klo gemacht, während die Männer das Wohnzimmer für ihr Homeoffice besetzt haben. Da hätte man von Anfang an dagegenhalten müssen.

Hätte die Regierung sich dazu äußern sollen?

Ja, das klingt zwar sozialromantisch, aber es wäre eine gute Ansage gewesen. Die österreichische Regierung hat viele Dinge sehr schnell und nicht ganz legal durchgedrückt. Das wäre ein Moment gewesen, um zu sagen: In Bereichen, wo es möglich ist, reduzieren alle die Arbeitszeit, um mit der Situation zu Hause gerechter umgehen zu ­können.

Auch um häuslicher Gewalt entgegenzuwirken?

Ja, das betrifft ja auch Kinder und die Zahlen sind stark gestiegen. Auch bei den hilfesuchenden Jugendlichen. Das ist belegt, aber es ist währenddessen nichts passiert, und ich fürchte auch, dass da im Nachgang nichts passieren wird. Hier wären natürlich größere Wohnräume oder die Möglichkeit, nach draußen zu gehen, eine Maßnahme, die Situation zu entschärfen.

Betrifft der Mangel an öffentlich geteiltem Raum verstärkt Jugend­liche in der Stadt?

Ich glaube schon, dass es für Jugend­liche in der Stadt schlimmer war als auf dem Land. Die Angebote sind in der Stadt größer, insofern wurde den Jugendlichen auf dem Land weniger weggenommen und dort konnten sie sich freier bewegen. Jugendliche stärken ihre psychosoziale Widerstandskraft über Bewegung und Interaktion. Leider werden sie häufig als gefährlich, aber selten als gefährdet dargestellt.

Ist Digitalisierung nützlich, um Ungerechtigkeiten im städtischen Raum abzubauen?

Digitale Angebote wie kostenloses ­W-Lan, Lieferservices, E-Scooter und E-Bikes sind nie gleichmäßig über die Stadt verteilt. Stadtteile, die als marginalisiert gelten, sind auch in diesem Punkt benachteiligt. Wenn Digitalisierung wirklich ein Gemeingut sein soll, dann müsste es eine weniger stark kommerziell angetriebene Digitalisierung sein.