Die Göttinger Polizei hat Ermittlungsverfahren gegen Bewohner eines im Juni unter Quarantäne gestellten Wohnkomplexes eingeleitet

Erst Quarantäne, dann Repression

Im Juni verhängte die Stadt Göttingen eine mehrtägige Quarantäne über etwa 700 Menschen in einem Wohnkomplex. Während die Quarantäne galt, kam es zu Auseinandersetzungen mit der Polizei. Diese hat mittlerweile 13 Ermittlungsverfahren eingeleitet.

Die Göttinger Polizei setzt Prioritäten: Eine eigens geschaffene Sonderkommission hat mittlerweile 36 Tatverdächtige ermittelt, die sich am 20. Juni an Auseinandersetzungen mit der Polizei vor dem damals unter Quarantäne stehenden Wohnkomplex in der Groner Landstraße 9 beteiligt haben sollen (Atemnot im Bunker - Jungle World 27/2020). Wie die Polizei in einer Pressemitteilung schrieb, hat sie 13 Ermittlungsverfahren eingeleitet, »wegen schweren Landfriedensbruchs, tätlichen Angriffs auf Polizeivollzugs­beamte, gefährliche Körperverletzung zum Nachteil von Polizeivollzugsbeamten, Beleidigung von Polizeivollzugsbeamten, Sachbeschädigung, versuchter gefährlicher Körperverletzung und Beleidigung zum Nachteil von Mitarbeitern der Stadt Göttingen und Mitarbeitern der dort engagierten Sicherheitsdienste, versuchter schwerer Brandstiftung und wegen des Verstoßes gegen das Sprengstoffgesetz«.

»Man versucht, Einzelpersonen aus dem Haus als Rädelsführer haftbar zu machen.« Ein Sprecher des Solidaritätsbündnisses Gronerland

Die Bürogemeinschaft der Göttinger Rechtsanwälte Adam, Kahlen und Spörkel vertritt einige Beschuldigte. Auf Anfrage teilten sie mit, dass »der Stand der Verfahren in diesem frühen Stadium noch offen und der weitere Fortgang unklar« sei. Daher halten sie sich mit Statements zurück.

In dem Wohnkomplex hatten sich im Juni mehr als 120 Bewohnerinnen und Bewohner mit Sars-CoV-2 infiziert, die Behörden hatten die schätzungsweise 700 in dem Gebäude lebenden Personen unter Quarantäne gestellt. Die Polizei hat die besten Voraussetzungen, ihre Sicht der Geschehnisse vom 20. Juni zur offiziellen Lesart zu machen. Sie kann auf den Rückhalt der SPD zählen, die in der Stadt Göttingen ebenso wie im Bundesland Niedersachsen die Regierung führt. In der Lokalpresse kommen kaum Stimmen vor, die der Polizei und den politisch Verantwortlichen widersprechen; die Sicht der in prekären Verhältnissen ­lebenden Bewohnerinnen und Bewohner der Groner Landstraße interessiert nicht.

Um Gegenöffentlichkeit zu schaffen, richteten Unterstützerinnen und ­Unterstützer unmittelbar nach dem 20. Juni den Twitter-Account @GronerLand ein. In Wechselschichten hielten sie für die Dauer der Quarantäne, also fünf Tage lang, Kontakt zu den Bewohnern, kümmerten sich mit anderen Freiwilligen um die Grundversorgung, die die Stadt nicht gewährleistete, und behielten das Vorgehen von Polizei und Behörden im Auge.

Mittlerweile ist aus der Zusammen­arbeit verschiedener Gruppen das Solidaritätsbündnis Gronerland entstanden. Ein Sprecher kritisiert auf Nachfrage der Jungle World den »Strafverfolgungswillen« der Polizei, der eindeutig politisch motiviert sei: »Man versucht, Einzelpersonen aus dem Haus als Rädelsführer haftbar zu machen. Damit soll von einem Desinteresse gegenüber den Menschen ab­gelenkt und ihnen selbst die Verantwortung zugeschoben werden für ein massives Vorgehen gegen sie.«

Am 18. Juni waren Mitarbeiter des Ordnungsamts und Polizisten in der Groner Landstraße 9 angerückt. Sie hatten auf Anweisung des Oberbürgermeisters Rolf-Georg Köhler (SPD) die Aus- und Zugänge zu dem Wohnkomplex verrammelt und das Gelände mit einem Bauzaun abgesperrt. Wer sich zu dem Zeitpunkt nicht zu Hause aufhielt, musste aus der Presse oder auf der Website der Stadt erfahren, dass »mit sofortiger Wirkung« eine Allgemeinverfügung gelte. Man habe zur Wohnung zurückzukehren, sonst drohe ein Bußgeld.

Ein Sicherheitsdienst überwachte den Bauzaun. Unter den Aufpassern ließen sich drei Sozialcharaktere identifizieren: Der erste begegnete den Eingesperr­ten mit Offenheit. Das Vorgehen der Stadt hielt er selbst für unangemessen, wie er durchblicken ließ. Er ermöglichte Kontakte nach außen zu Angehörigen, Freunden und Unterstützern. Der zweite reagierte sofort pampig. Mit welchen Anliegen auch immer Bewohner ankamen, die Antwort lautete: »Ich bin nicht zuständig, fragen Sie ­jemand anderen.« Repressiv vorzugehen, war die Sache des dritten Charaktertyps. Diese Wachleute kamen breitbeinig daher, die Hände meist an der Gürtelschnalle, und unterbanden beispielsweise unter Sicherheitsabstand stattfindende Gespräche von Bewohnerinnen und Bewohnern mit Besuchern auf der Straße ohne Angabe von Gründen.

Die Bewohner der Groner Landstraße gelten in der Stadt häufig pauschal als »Junkies«, »Assis« oder »Zigeuner«. Äußerungen von Verantwortlichen wie der Sozialdezernentin Petra Broistedt (SPD) machten es nicht besser. Sie hatte Infektionsausbrüche in der Stadt – vor dem Komplex in der Groner Landstraße 9 hatte es bereits das sogenannte Iduna-Zentrum getroffen  – auf Feiern von »Großfamilien« zurückgeführt und nicht etwa auf die in den Gebäuden herrschenden engen Wohnverhältnisse und die späte Reaktion der Behörden im Fall des Iduna-Zentrums. Die Rede von den gesundheitsgefährdenden »Großfamilien« ist besonders heikel, da in der Groner Landstraße auch Roma und Romnija leben, also Angehörige einer Bevölkerungsgruppe, die in Deutschland auch noch in der Nachkriegszeit auf Grundlage von NS-Rassegutachten als in »Sippen« auftretende »Zigeuner« polizeilich verfolgt wurde.

Einige von ihnen machten am 20. Juni nähere Bekanntschaft mit der Polizei, als sie zum Bauzaun gehen wollten, um sich eine Solidaritätsdemonstration anzusehen. Polizisten schritten gewaltsam ein, auch Kinder wurden von Pfefferspray getroffen. Am nächsten Tag trat Köhler vor die Kameras und sagte: »Eine Quarantänemaßnahme ist ein unendlich tiefer Eingriff in Grundrechte. Und wir haben uns diese Entscheidung nicht leicht­gemacht.«

Trotz der demonstrativen Zerknirschtheit haben die Behörden aber die aus ihrer Sicht Schuldigen unter den Bewohnern ausgemacht. Und der Eifer der Polizei ist ungebrochen. Der Göttinger Polizeipräsident Uwe Lührig sagte ­Anfang August, die Tatsache, dass Teilnehmer der Solidaritätsdemonstration am 20. Juni applaudiert hätten, als Hausbewohner Gegenstände auf Polizisten geworfen hätten, werde einer gesonderten rechtlichen Prüfung unterzogen. »Eine Demonstration von uns am 20. Juni vor dem Gebäude der Groner Landstraße soll ebenfalls kriminalisiert werden. Das ist doch leicht durchschaubar«, sagt der Sprecher des Solidaritätsbündnisses dazu. Es kommt demnach noch viel auf die Betroffenen und ihre Unterstützerinnen und Unterstützer zu. Die Rote Hilfe Göttingen nimmt Spenden in der Sache entgegen.