Der Wirecard-Skandal weitet sich aus

Unverbindlich prüfen

Der Skandal um den betrügerischen Dax-Konzern Wirecard hat die Politik erreicht. Gefährlich werden kann er vor allem Bundesfinanzminister Olaf Scholz, der Kanzlerkandidat der SPD werden will.

Das Thema Wirecard hat die besten Aussichten, zu einem Dauerbrenner zu werden. Immer neue Details, verwegene Vermutungen und wilde Spekulationen heizen die Geschichte an. Die Ufa hat bereits angekündigt, die Affäre als Wirtschaftskrimi zu verfilmen. Stoff dafür bietet sie genug. Das Unternehmen Wirecard hat in großem Stil und über viele Jahre Umsätze und Gewinne erfunden und damit den eigenen Börsenkurs so weit nach oben gedrückt, dass es in den deutschen Aktienleitindex Dax aufstieg (Schwundgeld beim Dax-Konzern - Jungle World 28/2020). Der Konzern hatte direkte Kontakte zur Bundesregierung, die für ihn mindestens einmal, und zwar in China, lobbyiert hat. Ob Geheimdienste bei Wirecard ihre Finger im Spiel hatten, wie Berichte auch in seriösen Zeitungen nahelegen, ob sich das flüchtige ehemalige Vorstandsmitglied Jan Marsalek wirklich in Russland versteckt und der Zahlungsdienstleister auch in Waffengeschäfte und Geldwäsche verwickelt war, ist noch unklar.

Von der Finanzaufsicht übersehene Finanzskandale sind keine Ausnahme. Sven Giegold und Elisabeth Paus (Grüne) haben eine Liste mit mehr als 70 Fällen zusammengestellt.

Fest steht dagegen, dass die Führungskräfte des Konzerns von den Aufsichts­behörden unbehelligt über lange Zeit tun und lassen konnten, was sie wollten. Nur eine von 50 Einzelgesellschaften wurde überhaupt kontrolliert. Auch nach Medienberichten über Bilanzmanipulationen blieben die Behörden untätig. Die dem Bundes­finanzminister Olaf Scholz (SPD) unterstehende Bundesanstalt für Finanzdienstleistungsaufsicht (Bafin) zeigte den Journalisten der Financial Times an, der als Erster über Unregelmäßigkeiten berichtete, und versuchte so, die Presse davon abzuschrecken, den Fall aufzugreifen. Der systematische Betrug und das Fehlen von 1,9 Milliarden Euro wurde nicht durch Kontrollen der deutschen Behörden aufgedeckt, sondern weil ein Geschäftspartner des Unternehmens auf einer genauen Prüfung bestand.

Mittlerweile hat die Staatsanwaltschaft München drei ehemalige Manager in Untersuchungshaft genommen. Vorgeworfen werden ihnen gewerbsmäßiger Bandenbetrug, Untreue, unrichtige Darstellung und Marktmanipulation in mehreren Fällen. Gegen weitere Beteiligte wird ermittelt. Die Staats­anwaltschaft geht davon aus, dass Banken in Deutschland und Japan sowie andere Investoren dem Konzern auf Grundlage der gefälschten Bilanzen rund 3,2 Milliarden Euro geliehen haben, die wahrscheinlich verloren sind.

Von der Finanzaufsicht übersehene und von anderen aufgedeckte Finanzskandale sind keine Ausnahme. Der Europaabgeordnete Sven Giegold und die Bundestagsabgeordnete Elisabeth Paus (beide Grüne) haben eine Liste mit mehr als 70 Fällen zusammengestellt, bei denen die Finanzaufsicht seit 2007 versagt hat. Darunter sind Fälle bei der Deutschen Bank, der Privatbank Sal. Oppenheim, der Internetfirma Unister und bei der Firma P&R, die bei Investoren viel Geld für nicht existierende Containerschiffe einsammelte.

Um zu klären, wie es möglich ist, dass die Bafin bei Wirecard derart versagte, hat sich mitten in der Sommerpause der Finanzausschuss des Bundestags zu einer Sondersitzung getroffen und Scholz sowie Bundeswirtschaftsminister Peter Altmaier (CDU) vorgeladen. Dieser hat die Aufsicht über die Wirtschaftsprüfer, die Bilanzen von Aktiengesellschaften auf Richtigkeit kontrollieren sollen und denen im Fall Wirecard schwere Versäumnisse vorgeworfen werden. Beide Minister brachten die gleiche Botschaft mit: In ihrem Verantwortungsbereich seien keine Fehler gemacht worden.

Altmaier, dessen Ministerium nicht direkt mit dem Fall Wirecard befasst war, hat gute Aussichten, damit durchzukommen. Dagegen rücken Scholz und das Versagen der Finanzaufsicht immer mehr ins Zentrum der Debatte. Auch vom Koalitionspartner kommt Kritik. Der CDU-Abgeordnete Matthias Hauer etwa bemängelte, trotz der intensiven Befragung von Scholz seien »diverse Fragen offengeblieben«. Von einem »unsäglichen Auftritt« des Finanzministers sprach der stellvertretende FDP-Fraktionsvorsitzende Michael Theurer. »Weiteres Zögern und Zaudern macht einen parlamentarischen Untersuchungsausschuss zur absoluten Notwendigkeit«, sagte er.

Auch die Linkspartei fordert einen Untersuchungsausschuss. »Die spannenden Fragen sind unbeantwortet«, sagte Fabio De Masi, der finanzpolitische Sprecher der Bundestagsfraktion der Linkspartei. Die Grünen haben sich noch nicht festgelegt. Den Finanzminister schonen aber auch sie nicht. »Olaf Scholz konnte den Vorwurf nicht ausräumen, dass er angesichts der vielen Verdachtsmomente fahrlässig zu spät gehandelt hat«, kritisierte der Bundestagsabgeordnete Danyal Bayaz. »Der Finanzminister hätte politisch genauer hinschauen und die Behörden auffordern müssen, jeden Stein umzudrehen.«

Ein zentrales Problem von Scholz: Zu keinem Zeitpunkt hat die Bafin mehr Befugnisse verlangt – und er auch nicht. Mittlerweile berufen sich der Minister und die Leitung der Bafin darauf, die bestehenden Gesetze hätten nicht mehr Kontrollen zugelassen und die beteiligten Behörden deshalb alles richtig gemacht. Aktionärsschützer, Ökonomen und Oppositionspolitiker fordern eine tiefgreifende Reform, deren Ziel eine umfassende Finanzkontrolle ist. Denn die beste Vorbeugung gegen Bilanzbetrug ist, das Auffliegen solcher Machenschaften möglichst wahrscheinlich zu machen. Doch Scholz greift diese Forderungen nicht auf. Er hat lediglich einen wenig überzeugenden »Aktionsplan« vorgelegt, der sich derzeit in der Abstimmung mit dem Wirtschafts-, Justiz- und Innenministerium befindet. Elisabeth Paus spricht von einer unverbindlichen »Prüfliste«.

Kernpunkt von Scholz’ Plan ist es, die Bafin mit mehr Befugnissen auszustatten, etwa mit einem Sonderprüfungsrecht. Wie das genau aussehen soll, bleibt aber unklar. Außerdem sollen Wirtschaftsprüfer, die Bilanzen von Aktiengesellschaften kontrollieren, ­häufiger wechseln. Denn ein großes Problem besteht darin, dass Wirtschaftsprüfer häufig ein und dasselbe Unternehmen sowohl beraten als auch seine Bilanz prüfen. Sie können in Interessenkonflikte geraten, wenn sie fürchten, einen Auftrag wegen einer zu harten Prüfung zu verlieren. Scholz will die Trennung der beiden Aufgaben nach eigener Aussage »stärken« – konkreter wird er nicht.

Andere Länder sind deutlich weiter. In Großbritannien etwa dürfen Wirtschaftsprüfer ein Unternehmen nicht zugleich beraten und prüfen. In Frankreich müssen Firmen von zwei voneinander unabhängigen Wirtschaftsprüfungsunternehmen kontrolliert werden. Ökonomen fordern auch, die Macht­konzentration der vier großen Wirtschaftsprüfungsunternehmen Ernst&Young (EY), KPMG, Pricewaterhouse-Coopers (PwC) und Deloitte aufzulösen. Das wäre möglich, indem jeweils zwei Wirtschaftsprüfer Unternehmen kontrollieren, von denen ­einer nicht zu den genannten vier Unternehmen gehört. Doch solche Ansätze finden sich in Scholz‘ Plan nicht.
Bis zum 10. August hat der Finanzminister Zeit, die zahlreichen Fragen der Abgeordneten des Finanzausschusses zu beantworten und vielleicht noch die Einrichtung eines Untersuchungsausschusses abzuwehren. Danach wollen Linkspartei, Grüne und FDP entscheiden, ob sie einen Untersuchungsausschuss beantragen. Ein Problem dabei ist, dass der Vorsitz wohl an einen AfD-Politiker gehen würde, was den anderen Parteien die Entscheidung für eine Einsetzung nicht ganz so leicht macht. Der Untersuchungsausschuss würde voraussichtlich im November die Arbeit aufnehmen – und Scholz bis zur Bundestagswahl begleiten.