Frauenmorde und Proteste in der Türkei

Muster der Gewalt

In der Türkei häufen sich die Frauenmorde. Frauenrechtsorganisationen organisieren Proteste dagegen.

Als die Studentin Pınar Gültekin Mitte Juli telefonisch nicht mehr zu erreichen war, schlug die Familie bei der Polizei im südanatolischen Muğla Alarm. Die 27jährige studierte Wirtschaft in dem Küstenort, galt als beliebt, erfolgreich und unkompliziert. Das Ergebnis der polizeilichen Suchaktion löste landesweit Entsetzen aus. Die Beamten stießen in einem Müllcontainer an einem Waldrand auf die verkohlte Leiche der jungen Frau. »Wir hätten niemals gedacht, dass Pınar so etwas passieren könnte«, sagte der verzweifelte Vater türkischen Medien. Er war stolz darauf gewesen, dass die Tochter einen Studienplatz an einer der begehrten Hochschulen im Westen der Türkei ergattert hatte, die gemeinhin einen besseren Ruf als die im Osten haben.

Die Zahl der Morde an Frauen ist nach Angaben der Frauen­organisation »Wir werden Femizide stoppen« seit 2015 um 63 Prozent gestiegen.

IhrPınar Gültekins ehemaliger Freund, der 40jährige Familienvater Cemal Metin Avcı, hat die Tat mittlerweile gestanden. Im Zuge einer Auseinandersetzung habe er die Studentin bewusstlos geschlagen, erwürgt und dann die Leiche in Brand gesteckt. Der Täter ist nicht vorbestraft und betrieb in Muğla eine Bar, er galt als liberal eingestellter und unauffälliger Zeitgenosse. Die Tat deute dennoch auf ein gezieltes Vorgehen und den vordringlichen Wunsch zur Vertuschung hin, sie folge gängigen frauenverachtenden Mustern, sagt der Anwalt von Gültekins Familie, Rezan Epözdemir. »Wir werden versuchen nachzuweisen, dass es sich hier um Vorsatz und nicht um Affekt handelt. Damit versuchen Männer immer wieder, sich auf gesellschaftlich akzeptierte Weise zu entlasten.« Der Jurist übt auch über die mediale Öffentlichkeit Druck auf die Polizei auf, ihre forensische Arbeit gründlich zu tun. In der juristischen Praxis werde gern geschlampt, wenn es um Gewalt gegen Frauen gehe, weil den Opfern oft eine Mitschuld ­unterstellt werde, betont er. Im Justizapparat gebe es eine patriarchalische Grundhaltung.

Ein typisches Beispiel: Der Forensiker Mehmet Nuri Aydın schrieb 2018 im Falle der Vergewaltigung und Ermordung der Studentin Şule Çet in Ankara in seinem Bericht, Frauen signalisierten ihre Bereitschaft zum Sex, wenn sie mit Männern Alkohol tränken. Die junge Frau war in Ankara in einem Hochhaus von zwei Tätern vergewaltigt und dann aus dem Fenster in den Tod gestürzt worden. Erst nach Empörung in den Me­dien wurde Aydın von der Ärztekammer abgemahnt und mit einer Suspendierung von seinem Beruf für sechs Monate bestraft. Er ist mittlerweile wieder als Arzt tätig.

»Tut endlich was«, fordert Nurtaç Canan. Die 49jährige überlebte den Kugelhagel, mit dem ihr Ehemann sie Anfang Juni schwer verletzte, weil sie sich von ihm trennen wollte. Der Sohn fand die Mutter in einer Blutlache, in die sie mit dem Finger geschrieben hatte: »Ragıp war’s. Seid nicht traurig, ich bin jetzt erlöst.« Die mutige Frau sprach Ende Juni mit der Tageszeitung Hürriyet über ihre jahrelange systematische Misshandlung und forderte entschieden, ihren Fall als einen von vielen zu behandeln und politisch dagegengegen misogyne Gewalttätigkeit vorzu­gehen.

Ein 26jähriger erstach am 24. Mai in der südostanatolischen Provinz Muğla seine Freundin in der gemeinsamen Wohnung. Das Opfer, Zeynep Şenpınar, hatte zwei Wochen zuvor wegen häuslicher Gewalt bei der Polizei Hilfe gesucht, die Anzeige dann aber zurückgezogen. In den türkischen Medien wird der Täter als »Boxer-Freund« tituliert, als sei der Kampfsport bereits ein Indiz für Gewaltbereitschaft.

Die Tendenz von Justiz und Politik, Gewalttaten an Frauen zu Einzelfällen zu erklären und den dramatischen Anstieg der Anzahl von Morden an Frauen zu verharmlosen, gehört für Frauenverbände zum Teil des Problems. »Es gibt klare Muster«, unterstreicht Fidan Ataselim, die Generalsekretärin der türkischen Frauenorganisation »Wir werden Femizide stoppen«. »Frauen werden getötet, wenn sie ein eigenes Leben führen wollen und ›nein‹ zu dem sagen, was Partner oder die Familien ihnen vorschreiben.«

Die Gewalt gegen Frauen nimmt seit Jahren zu. Die Zahl der Morde an Frauen ist nach Angaben der Frauenorganisation seit 2015 um 63 Prozent gestiegen, von 303 auf 474 Fälle allein im vergangenen Jahr. Die Covid-19-Pandemie verschlimmere das Problem, warnen Menschenrechtsorganisationen. Istanbuls Polizei verzeichnete im März einen Anstieg der Zahl von Gewalttaten an Frauen um 38 Prozent im Vergleich zum Vormonat. Landesweit wurden der Frauenorganisation zufolge im Juni 27 Frauen von Männern ermordet. Die Ordnungskräfte verhalten sich gemäß der widersprüchlichen Politik der politischen Führung oft kontraproduktiv. Gegen Frauen in Izmir, die wegen des Mords an Pınar Gültekin protestierten, ging die Polizei gewaltsam vor. Präsident Recep Tayyip Erdoğan twitterte zwar nach der Entdeckung der Leiche, dass er bestürzt über die Untat sei und jegliche Form von Gewalt gegen Frauen verabscheue. Gleichzeitig droht das Staatsoberhaupt seit Monaten damit, die Istanbul-Konvention zur Prävention von Gewalt an Frauen außer Kraft zu setzen, weil sie die Familienwerte in der Türkei gefährde. Am 8. August will Erdoğan seine Entscheidung darüber kundtun.

Frauenrechtlerinnen beschweren sich seit Jahren über die Bigotterie von Politik und Justiz, wenn es um die grassierenden Gewalt gegen Frauen geht. Es wurde etwa ein polizeilicher Notruf eingerichtet. Frauen können per App Hilfe rufen, wenn sie von Gewalt bedroht werden. »Wenn die Polizei dann allerdings erst anruft, um zu ermitteln, was los ist, und mit dem Mann zu ­reden, setzen sie die Frauen einer noch größeren Gefahr aus«, so Fidan Ataselim.

Evrim İnan vom Verein Frauensolidarität Bodrum (BKD) ist Anwältin. Frauen erhalten bei der feministischen Gruppe kostenlose juristische Beratung. »Unser größtes Problem ist die Kluft zwischen juristischer und gesellschaftlicher Realität«, sagt İnan. Sie versucht vor Gericht immer wieder, die Istanbul-Konvention zur Anwendung zu bringen. Das Übereinkommen des Europarats zur Verhütung und Bekämpfung von Gewalt gegen Frauen und häuslicher Gewalt wurde 2011 in Istanbul unterzeichnet. In der Türkei trat es 2014 in Kraft, vier Jahre früher als in Deutschland. Auf die Rechtspraxis habe der Vertrag aber kaum Einfluss, beklagt Evrim İnan. Er enthalte etwa strenge Schutzregeln für Gewaltopfer. Sie dürften nur im Beisein von Psychologen in geschützten Räumen vernommen werden. In der Regel würden die Opfer aber zur Hauptverhandlung vorgeladen und müssten in der Öffentlichkeit und im Beisein des ­Täters ihre Aussagen machen. »Die Rechtspraxis schützt die Täter, nicht die Opfer, und folgt einer patriarchalischen Doktrin, die durch Politiker und staatliche Institutionen vertreten wird«, so İnan.

Derzeit wird ein Gesetzentwurf diskutiert, der eine alte Praxis wieder einführen könnte: die Straffreiheit für Vergewaltiger, wenn sie ihr minderjähriges Opfer heiraten. Frauenorgani­sationen machen seit Monaten dagegen mobil. Eine starke und auch gesellschaftlich akzeptierte Frauenbewegung steht dabei einem Machtapparat gegenüber, der sie zwar sporadisch unterstützt, aber auch immer wieder ihre Bemühungen sabotiert.

Viele in der Istanbul-Konvention garantierte Frauenrechte wurden niemals implementiert, etwa das auf eine ausreichende Zahl von Plätzen in Frauenhäusern. Ali Şeker, Abgeordneter der oppositionellen Republikanischen Volkspartei (CHP), kritisierte Ende Juli diesen Missstand und stellte eine offizielle Anfrage an den Präsidentenpalast. Bei einer Bevölkerung von 83 Millionen gebe es 145 Frauenhäuser, wurde ihm schriftlich mitgeteilt. Die könnten insgesamt 3 428 Hilfesuchende aufnehmen. »Nicht einmal für eine von 10 000 Frauen steht ein Platz zur Verfügung«, so Şeker, »die Zahl der Notunterkünfte für Hilfesuchende muss sofort aufgestockt werden.«

Doch auch seine Partei ist in den von ihr regierten Stadtverwaltungen nicht unbedingt für praktische Hilfe bekannt. In Bodrum etwa regiert ein Bürgermeister von der CHP. »Wir haben jahrelang ein Frauenhaus in Bodrum gefordert«, sagt İnan. Bodrum liegt in der Provinz Muğla, die gerade wegen der Morde an Pınar Gültekin und Zeynep Şenpınar in die Schlagzeilen geraten ist. »Jetzt wurde das Frauenhaus zwar eingerichtet, aber immer noch nicht geöffnet.«