Eine Oral History über Joy Division

Komplexe Freude

Der Musikjournalist Jon Savage hat aus Interviews eine Oral History der Band Joy Division zusammengestellt, die besonderes Augenmerk auf die Gefühle der Musiker, aber auch auf die der Hörer legt.

Ohne Oral History wüsste wohl niemand etwas über Punk, der nicht selbst dabei gewesen ist. Die in der Wissenschaft manchmal nicht ganz unproblematische Herangehensweise, Zeitzeugen subjektiv sprechen zu lassen, ist die Basis wichtiger Bücher zur Musik der späten Siebziger. »Please Kill Me«, das 1996 erschienene Buch zum Punk in den USA von Legs McNeil und Gillian McCain, trug schon den Untertitel »The Uncensored Oral History of Punk«, und auch das Pendant dazu für die Bundesrepublik, Jürgen Teipels »Verschwende Deine Jugend« (2001), bestand komplett aus zusammenmontierten O-Tönen.

Vielleicht sind komplexe Emotionen der Unterschied ums Ganze und der Grund für den Wechsel von Punk zu Post-Punk gewesen, den Joy Division geradezu repräsentieren.


Nun ist es vielleicht auch problematisch, nur die Ansichten der handelnden Subjekte zu einem Thema zu präsentieren, da das allerlei Mythen­bildung den Weg ebnet. Im Falle einer Band wie Joy Division allerdings ist es nahezu unmöglich, in irgendeiner Weise objektiv über sie reden, hängt der Band doch immer schon ein Mythos an, der sich so wacker hält, dass gegen ihn kaum ein Kraut gewachsen zu sein scheint – nämlich der Mythos ihres unter Depressionen und Epilepsieanfällen leidenden Sängers Ian Curtis, der 1980 Selbstmord beging. Und noch mehr als bei vergleichbarer Musik eignet der von Joy Division etwas ganz Unmittelbares, Emotionales, etwas, das Gefühle bei Menschen so schnell erregt, dass sie am Ende nur noch über diese sprechen können.

Man kann wohl niemand Besseren finden als Jon Savage (dessen bürgerlicher Nachname natürlich anders lautet), um die Geschichten über und die Erinnerungen an Joy Division aufzuschreiben. Savage führte selbst Ende der Siebziger Interviews mit der Band und rezensierte ihre Platten und Auftritte, später schrieb er das Buch »England’s Dreaming« über die Anfänge des Punk in Großbritannien und die Sex Pistols, war Autor des Dokumentarfilms »Joy Division« von 2007 und hat jetzt aus den Interviews der vergangenen Jahrzehnte ein eigenes Buch mit dem Titel »Sengendes Licht, die Sonne und alles andere« gemacht. Es ist nicht das erste zum Thema. Schon Mitte der Neunziger veröffentlichte Deborah Curtis, die Witwe von Ian Curtis, ein Buch mit dem Titel »Touching from a Distance«, das dann teilweise als Vorlage für den aalglatten Film »Control« von Anton Corbijn (2007) herhielt. »Sengendes Licht, die Sonne und alles andere«, pünktlich zum 40. Todestag von Ian Curtis veröffentlicht, beinhaltet ausschließlich Interviewpassagen, und zwar von allen ehemaligen Mitgliedern der Band sowie von Mitarbeitern ihres Labels Factory Records, Freunden und Bekannten sowie anderen Zeitzeugen, die die Geschichte der Band chronologisch nacherzählen. Unterbrochen werden die O-Töne von schnipselartigen ­Rezensionen von Platten oder Konzerten der Band.

Es gab zwei Arten von Bands in dieser Zeit in Großbritannien: die einen, wie beispielsweise Roxy Music, die sich auf der Kunsthochschule kennenlernten, und die anderen, die aus jungen Leuten bestanden, die sich als ungelernte Hilfskräfte durchschlugen. Zu Letzteren gehörten auch Joy Divi­sion: Sänger Ian Curtis arbeitete erst in einer Fabrik, dann in einem Plattenladen und war danach einfacher Sachbearbeiter im Öffentlichen Dienst, eine Zeitlang im Verteidigungsminis­terium, dann im Arbeitsamt; ebenso wie Bassist Peter Hook, der auch auf dem Amt arbeitete. Nur Leadgitarrist Bernard Sumner wollte aufs Art College gehen, was ihm seine Eltern allerdings nicht erlaubten, so dass er eine Stelle in der Finanzabteilung des Rathauses annehmen musste, wo er den ganzen Tag nichts anderes tat, als Briefe zu verschicken.
Doch trotz oder sogar wegen dieser unterprivilegierten Stellung erreichte die in dieser Zeit viel weniger segmentierte und komplexere Popkultur die jungen Männer. Ian Curtis las ­leidenschaftlich gerne William S. Burroughs und Nietzsche, der musikalische Haupteinfluss auf Joy Division waren, man glaubt es erst beim zweiten Nachdenken, Jim Morrison und Kraftwerk. Bei jemandem wie Curtis förderte diese Zerrissenheit zwischen kleinbürgerlicher Existenz und künstlerischem Willen zur Aufsässigkeit Interessantes zutage, wie Peter Hook in Savages Buch erzählt: »Zum ersten Mal bin ich Ian auf der Treppe im Electric Circus begegnet, weil er vor mir stand und mit weißen Klebestreifen »HATE« hinten auf seine Jacke geschrieben hatte. Wenn er morgens zur Arbeit ging, hat er das Klebeband einfach abgezogen.« Wie wohl jede britische Punkband nach 1976 gründeten sich auch Joy Division, die erst Warsaw hießen und sich dann provokanterweise nach der nazideutschen Bezeichnung für KZ-Bordelle benannten, in Folge eines Konzerts der Sex Pistols.

Joy Division stammen aus Manchester, so hört man es oft, doch tatsächlich stimmt das nicht ganz. Denn die vier Mitglieder gründeten ihre Band in Salford, einer nahe­gelegenen Stadt, die in den Siebzigern noch heruntergekommener war als Manchester selbst (schon Friedrich Engels hatte Salford in dieser Weise beschreiben). Wie Tony Wilson, der Mitgründer und Leiter von Factory Records, im Buch erzählt, galt Manchester, die »archetypische moderne Stadt«, in den Siebzigern als größter Slum Europas. Der wohl wichtigste Ort der industriellen Revolution war geprägt von leerstehenden Fabrik­gebäuden und »Beton-Gulags« (wie der Musiker C. P. Lee im Buch die ­Sozialbauwohnsiedlungen bezeichnet).

Nun könnte man annehmen, dass dieses Lebensumfeld einen in die Depression zieht und genau dieser ­Gemütszustand für die Gründung und für die Art der Musik von Joy ­Division verantwortlich ist. Es ist aber nicht nur so, sondern auch anders: Bernard Sumner erzählt gleich zu Anfang des Buchs, dass er gerade aufgrund der ganzen Hässlichkeit um ihn herum nach etwas Schönem Ausschau hielt, sich geradezu danach verzehrte, und der Graphiker und Zeitzeuge Jon Wozencroft erzählt später von einem Konzert der Band, das er sah und bei dem es ihm dämmerte, dass es bei Joy Division nicht primär um das Düstere geht: »Für mich war es eine sehr beeindruckende Erkenntnis, dass da sehr viel Helligkeit war, es ging nicht nur um Tod, Unheil und Verderben.« Ähnliches kann man in einem kurzen Ausschnitt aus einer Konzertrezen­sion lesen, in der der Autor Nick Tester für Sounds schreibt: »Joy Division ­geben sich alle Mühe, düster zu wirken, aber ich musste grinsen.«

Der Suizid des Sängers liegt nicht über diesem Buch wie ein dunkler Schatten. Stattdessen erfährt man neben Anekdotischem viel darüber, wie es Ende der Siebziger war, Musik zu machen, sei es die Arbeit beim Label, die Distribution, das Organisieren von Konzerten oder die gestalterische Arbeit, über die der Graphiker Peter Saville Auskunft gibt, der nicht nur das berühmte und unzählige Male auf Taschen und Shirts gedruckte Cover von »Unknown Pleasures« entwarf (das übrigens im ursprünglichen Entwurf die Wellen in schwarz auf weißem Hintergrund zeigte), sondern auch für die Konzertposter verantwortlich war.

Und doch kann man und muss man Emotionen auch nicht meiden, denn einer Band wie Joy Division kommt man nur über sie auf die Spur. So schrieb zum Beispiel ein Rezensent für den Melody Maker, der im Buch zitiert wird, über Ian Curtis, er schreibe Texte, deren Ziel »nicht die Vermittlung einer Botschaft, sondern das Erzeugen eigenartiger Gefühle« sei. So beschreibt auch Bernard Sumner seine Herangehensweise: »Man empfindet etwas leidenschaftlich und bringt die Leidenschaft mittels seiner Hände und Gedanken zum Vorschein.« Und Tony Wilson charakte­risiert im Interview die Band mit folgenden Worten: »Sie haben die Energie und die Einfachheit von Punk genutzt, um komplexere Emotionen auszudrücken.«

Vielleicht sind genau diese komplexen Emotionen der Unterschied ums Ganze und der Grund für den Wechsel von Punk zu Post-Punk ­gewesen, den Joy Division geradezu repräsentieren. An die Stelle von blanker Wut trat etwas anderes, etwas, das atmosphärischer war. Nochmal Jon Wozencroft: »Die Musik von Joy Division ist sehr erhebend. Es geht nicht darum, dass man deprimiert in seinem Zimmer hockt, Finger­nägel kaut und darüber nachdenkt, sich aus dem Fenster zu stürzen. Es geht darum, das normale Leben in etwas Magisches und Bejahendes zu verwandeln. Das Klischee-Image von Joy Division war immer sehr düster und deprimierend. Für mich war das überhaupt nicht so: Sie brachten mir große Freude.« Vielleicht ist diese Interpretation etwas zu schlicht, aber es bleibt die Erkenntnis, dass Post-Punk zwar Freude brachte, aber immer nur durch das Düstere hindurch, immer erst in der Negation. Denn nur wer die Traurigkeit kennt, kann auch glücklich sein.

Jon Savage: Sengendes Licht, die Sonne und alles andere. Die Geschichte von Joy Division. Aus dem Englischen von Conny Lösch. Heyne, München 2020, 384 Seiten, 20 Euro