Eine Wanderung durch das Küstenidyll in Harry Mathews Roman »Der einsame Zwilling«

Die geistige Gated Community

In Harry Mathews posthum veröffentlichtem Roman »Der einsame Zwilling« versuchen zwei bürgerliche Paare in einem kleinen Ort, dem Geheimnis von eigenwilligen Zwillingen auf die Schliche zu kommen.

Der 2018 erschienene Kurzroman »The Solitary Twin« des US-amerikanischen Autors Harry Mathews, der jetzt in deutscher Übersetzung unter dem Titel »Der einsame Zwilling« vorliegt, spielt in einem Küstenidyll, für dessen betuchte Einwohner und ihre angenehmen Gäste alles in Ordnung scheint. Die Besserverdiener gönnen sich in der fiktiven Hafenstadt New Bentwick nach der Arbeit ein edles Dinner mit Blick auf die schöne Landschaft. Man hat es geschafft. Die Polizei kommt hier nur dann zum Einsatz, wenn ein verzweifelter Junge aus höherem Hause mal wieder besoffen versucht, etwas zu klauen, um sich selbst zu beweisen.

Doch diese heile Welt gibt im Buch nur den Hintergrund ab. Ein Pärchenurlaub bildet die Rahmenhandlung des Romans: Andreas betreibt einen kleinen, bescheidenen Verlag, für dessen Programm er auf außergewöhnliche Lebensberichte aus ist. Und für diese hehren Zwecke müssen die Angestellten nun mal zurückstecken: Seine Sekretärin, wie Andreas freimütig zugibt, ähnelt eher einer »Schuldmagd«, die er auf die »denkbar netteste Weise schindet« und deren »mickriger Lohn durch Achtsamkeit und Verständnis wettgemacht« wird. Berenice, die Partnerin von Andreas, ist behavioristische Psychologin und nach eigener Aussage »rettungslos fasziniert vom menschlichen Verhalten, und das nicht nur beruflich«. Also trägt sie unbezahlt und ungefragt aller Welt ihre Dienste an.

Mathews gelingt es mühelos, mit Spannung und Witz darzustellen, wie in einer heilen Welt jeder Mensch für jeden anderen Menschen zum Thema wird und wie viel Arbeit die Herstellung des eigenen Selbstbilds verlangt.

Das besondere Interesse der saturierten Intellektuellen gilt den Zwillingen John und Paul, die ebenfalls zu Besuch im Ort sind. Warum? »Sie benehmen sich nicht so, wie sie sollten!« John und Paul fügen sich nicht recht in die harmonische Gemeinde ein: Die beiden gehen sich konsequent aus dem Weg, wohnen so weit wie möglich voneinander entfernt, zeigen ganz gegensätzliches Verhalten, wenn sie mal in Gesellschaft sind. Gleichzeitig verwirrt Andreas und Berenice, dass die Zwillinge fast identisch gekleidet sind, die gleichen Gerichte mögen, sogar dieselbe Zigarettenmarke rauchen. Zufällig teilen sich John und Paul eine »höchst sichtbare Freundin«, ergo eine Geliebte. Das ist allerdings keineswegs ein Anlass für moralische Empörung: Die junge Frau wird kurzerhand zur wichtigsten Informationsquelle auserkoren beziehungsweise degradiert; nur erschwert ihr neurotischer Tanzzwang jedes Gespräch. Geoff und Margot haben Andreas und Berenice auf die junge Frau aufmerksam gemacht; die Treffen der beiden Paare stehen im Mittelpunkt des Romans.

Die New York Times schrieb bereits, – und der Verlag druckte das stolz auf die Rückseite des Buchs – dass »Der einsame Zwilling« strukturell dem »Decamerone« von Boccaccio ähnele. Nur treffen sich in Matthews’ Roman eben nicht sieben junge Frauen und drei junge Männer, sondern zwei ältere Paare; draußen wütet nicht die Pest, sondern es herrscht maximal angenehme Geschäftigkeit. Zudem vergnügt man sich nicht einfach mit den Geschichten: Der Verleger und die Psychologin sind einer sie aufreibenden Identitätsfrage auf der Spur, stellen biographische Zusammenhänge her und strangulieren sich und ihre Gastgeber letztlich im selbst gespannten narrativen Netz. Besagter Geoff hatte seine beste Zeit 1968 in Paris, als er noch Dichter werden wollte. Jetzt arbeitet er in der Stadtverwaltung als »Gemeindeassessor für das Merkantile«, wie es umständlich heißt, und bildet sich dabei ein, in den Mühlen der Bürokratie eine permanente Revolution mittels Kungeleien am Laufen zu halten. Es würde zu ihm passen, Akten als Listengedichte zu interpretieren. Margot bleibt lange Zeit schweigsam, bis sie dann so richtig auspackt und damit weitere Soireen verhindert. Um sich bei Laune zu halten, erzählen die vier also Geschichten, deren Verknüpfungen mit der eigenen nach und nach ans Licht kommen. In allen geht es um obsessive Charaktere: Der ­bescheidene Diener Hubert etwa, eigentlich eine Figur aus Andreas’ Kindheit, hat in einem windstillen Park eine profane Erleuchtung und geht daran zugrunde, in Vorträgen diese Erfahrung einem Publikum vermitteln zu wollen, vor dem er irgendwann als Depp dasteht. In einer anderen Geschichte geht es um Malachi, der als junger Mann aus Belgien vor den Nazis flieht und ein Vermögen mit dem Geschäftskonzept Autohaus machte. Gegen Ende der Gesprächsrunden zeigt sich immer mehr, dass die auf die Lebensgeschichte der anderen versessenen anständigen Leute sich selbst sehr kunstfertig zusammengezimmert haben.

Der Autor Harry Mathews, 2017 in Florida verstorben, der in Deutschland noch weitgehend unbekannt ist, war nicht nur einige Jahre Ehemann der berühmten Bildhauerin Niki de Saint Phalle, sondern einziges US-amerikanisches Mitglied der Gruppe Oulipo (Ouvroir de la littérature ­potentielle – Werkstatt für potentielle Literatur), in der man sich das Schreiben durch formelle Zwänge erschwerte, um am Ende mit überraschenden Ergebnissen aufzuwarten. Klassisches Beispiel ist Georges Perecs Roman »La Disparition«, in dem knapp 300 Seiten lang auf den Buchstaben verzichtet wird, der am häufigsten in der französischen Sprache vorkommt: das e.

Matthews Roman erschöpft sich aber nicht in selbstgefälligen literarischen Experimenten, die mit irgendwelchen Konventionen brechen. Im Gegenteil: Ihm gelingt es mühelos, mit Spannung und Witz darzustellen, wie in einer heilen Welt jeder Mensch für jeden anderen Menschen zum Thema wird, wie viel Arbeit die Herstellung des eigenen Selbstbilds verlangt, aber niemand imstande ist, die schlimmstmögliche Wiederkehr des Verdrängten zu vereiteln, da der teuer erkaufte Ruf und der gediegene Alltag dabei Schaden nehmen müssten. Die Schick­sale von Menschen, die einem nah sein könnten, werden zu Geschichtchen, Tratsch, höherer Unterhaltung, alles bei einem gediegenen Abend­essen von vorgeblich glücklichen Paaren, die ebensolche eingeladen haben.

Wie das Hafenstädtchen der Ort geworden ist, der er heute ist, wird im Verlauf der Handlung, also der Gespräche, erst allmählich deutlich. Der Zwilling Paul legt in einem ­Gespräch offen, dass es ihn in das Städtchen nur verschlagen hat, weil es von Anfang an – unter anderem durch den Ex-Achtundsechziger Geoff – als »globales Dorf« von sehr reichen US-Amerikanern angelegt wurde, die hier »ein gewaltiges internationales Reservoir an Menschenmaterial« versammeln. An diesem abgeriegelten Wohlstand dürfen alle Fähigen Anteil haben, die keine grundlegenden Veränderungen der Verhältnisse im Kopf haben oder mit den zur Verfügung stehenden Mitteln etwas draußen in der Welt anstellen wollen. Weil man es geschafft hat, steht einem zu, allen Konflikten aus dem Weg zu gehen, deren Ursache in der Vergangenheit liegt.

Am Ende geht es in der Handlung dann auch Schlag auf Schlag: Eine Ehelebenslüge wird offenbar, ein brutaler Vatermord folgt. Klassenflucht und Klassenhass haben damit zu tun. Der Einbruch roher Gewalt – eine Schädeldecke wird zertrümmert – in das Kaff, bei dem die Grenzen zwischen Luxus-Retreat und Gewerbepark verschwimmen, wo sich die bessere Gesellschaft das »Menschenmaterial« zum Thema macht, ohne dazu in der Lage zu sein, jemandem zu helfen oder wirklich nahe zu kommen, bildet so den stimmigen Schluss einer Parabel auf die gated communities des Geistes.

Harry Mathews: Der einsame Zwilling. Aus dem amerikanischen Englisch von ­Michael Mundhenk. Diaphanes-Verlag, Berlin 2020, 124 Seiten, 12 Euro