Ob die israelische Regierung einen Teil des Westjordanlandes annektieren lässt, ist fraglich

Bündnis oder Annexion

Israels Ministerpräsident Benjamin Netanyahu plant für die Zeit nach dem 1. Juli die Annexion von rund 30 Prozent des Westjordanlands. Doch ob das wirklich so geschieht, scheint fraglich.

Im Wahlkampf Nummer zwei war es das Ass, das Benjamin Netanyahu aus dem Ärmel zog. Kurz vor der Parlamentswahl am 17. September 2019, der zweiten von dreien binnen Jahresfrist, präsentierte der amtierende israelische Ministerpräsident eine Landkarte, auf der Teile des Westjordanlands in blauer Farbe gekennzeichnet waren. »Wenn ich von Ihnen, den Bürgern Israels, ein klares Mandat dafür erhalte«, so Netanyahu vor laufenden Kameras, »kündige ich noch heute meine Absicht an, die israelische Souveränität auf das Jordantal und das Gebiet nördlich des Toten Meers auszuweiten.»

Bei einer Annexion von Teilen des Westjordanlands könnte Netanyahus großes außenpolitische Projekt Schaden nehmen: das strategische Bündnis mit den sunnitischen Staaten gegen den Iran.

Auf diese Weise wollte er der rechtsnationalistischen Konkurrenz das Wasser abgraben. Doch es brauchte noch eine dritte Wahl im März, bis Netanyahu sich als Ministerpräsident wiederwählen lassen konnte. Der Plan blieb ganz oben auf seinem Programm. Im von ihm und seinem vormaligen Herausforderer Benny Gantz unterzeichneten Koalitionsvertrag, der für die ersten sechs Monate der Mitte Mai vereidigten Regierung gilt, ist die Annexion von Teilen des Westjordanlands neben der Bekämpfung der Coronakrise das einzige Thema. Darin ist auch ein Datum genannt: Ab dem 1. Juli soll über die Annexion im Kabinett und in der Knesset verhandelt werden.

Im Wesentlichen geht es darum, die Souveränität Israels auf fast alle 130 Siedlungen sowie die strategisch wichtige Region entlang der Grenze zu Jordanien auszuweiten, insgesamt auf rund 30 Prozent des Westjordanlands. Die Regierung beruft sich auf den im Januar vorgestellten Friedensplan von US-Präsident Donald Trump, der Israel das gestattet (Jungle World 6/2020). Ein einseitiger Schritt, den die Regierung damit rechtfertigen kann, dass sich die Palästinenser seit Jahr und Tag einem Friedensschluss verweigern und derzeit weder mit Israel noch mit den Vereinigten Staaten sprechen wollen. Doch genau diese Unilateralität sorgt für viel Kritik, vor allem von der EU.

Nach einem Treffen der EU-Außenminister am 15. Mai sagte der EU-Außenkommissar Josep Borrell, dass man die israelische Regierung »entmutigen» wolle und weiterhin am Zweistaatenmodell als Lösung festhalte. Sogar Sanktionen kamen zur Sprache. Für Israel wäre das nicht unproblematisch, schließlich ist die EU der wichtigste Handelspartner des Landes. Zudem genießt es einen privilegierten Status und profitiert unter anderem durch die Teilnahme an umfangreichen EU-Forschungs- und Entwicklungsprogrammen wie »Horizont 2020». Doch herrscht in der EU keinesfalls Konsens. Länder wie Ungarn, Polen oder die Tschechische Republik würden Sanktionen gegen Israel wahrscheinlich nicht zustimmen.

»Ich habe noch einmal die deutsche Haltung und auch unsere ehrlichen und ernsthaften Sorgen als ganz besonderer Freund Israels über die möglichen Folgen eines solchen Schrittes dargelegt», betonte auch der deutsche Außenminister Heiko Maas bei seinem Besuch in Jerusalem in der vergangenen Woche. »Gemeinsam mit der Europäischen Union sind wir der Ansicht, dass eine Annexion nicht mit internationalem Recht vereinbar wäre», so Maas weiter. Ohne konkret zu werden, sprach auch er davon, dass eine Verwirklichung des Plans Folgen haben würde. »Ich habe noch keinen Preis genannt», antwortete er auf Journalistenfragen nach möglichen Sanktionen.

Eine Annexion könnte Israel aber einen ganz anderen Preis kosten, nämlich eine ernsthafte Verschlechterung der Beziehungen zu den arabischen Staaten. Bereits im Mai hatte Jordaniens König Abdullah II. damit gedroht, den Friedensvertrag mit Israel von 1994 aufzukündigen. Am 12. Juni warnte auch Yousef al-Otaiba, der Botschafter der Vereinigten Arabischen Emirate in den USA, vor einer Annexion. Das war insofern eine kleine Sensation, als der Diplomat dafür eigens einen Kommentar in der Tageszeitung Yedioth Ahronoth verfasste – das erste Mal überhaupt, dass ein hochrangiger Vertreter eines Golfstaats sich so direkt in den israelischen Medien äußerte. »In jüngster Zeit haben israelische Politiker spannende Gespräche über eine Normalisierung der Beziehungen mit uns geführt», schrieb er und wies ferner ­darauf hin, dass sein Land bereits vieles unternommen habe, was dem beider­seitigen Interesse diene, zum Beispiel die Hizbollah auf die Liste der Terrororganisationen zu setzen. »Aber die Annexionspläne und das Reden über eine Normalisierung stehen im Widerspruch zueinander.»

Das war eine deutliche Warnung. So könnte Netanyahus großes außenpolitische Projekt Schaden nehmen: das strategische Bündnis mit den sunnitischen Staaten gegen den Iran. Darüber hinaus droht ihm im Falle einer Wahlniederlage Trumps bei den Präsidentschaftswahl in den USA im November weiteres Ungemach. Denn Joe Biden, der Kandidat der Demokraten, hat bereits erklärt, dass er die Annexionspläne nicht unterstützen werde.

In Israel selbst sind die Pläne umstritten. Dem Israel Democracy Institute zufolge wären zwar 50,1 Prozent dafür, aber 30,9 Prozent dagegen und 19 Prozent unentschieden. Eine Umfrage des Fernsehkanals Keshet 12 kam dagegen auf eine Zustimmungsrate von nur 34 Prozent, 46 Prozent unterstützen das Vorhaben demnach nicht. Überhaupt haben die Israelis derzeit ganz andere Sorgen. Wenig überraschend hielten 67 Prozent der Befragten die Bekämpfung der wirtschaftlichen Folgen der Covid-19-Pandemie für das wichtigste politische Thema, nur 3,5 Prozent die Annexion. Selbst bei den Siedlern herrscht keine Partystimmung. Vielen von ihnen gefällt nicht, dass im Trump-Plan immer noch von einem »palästinensischen Staat» die Rede ist.

Bei Linken stoßen die Pläne auf strikte Ablehnung. Anfang Juni kamen in Tel Aviv einige Tausend Israelis zu einer Demonstration zusammen. Aufgerufen hatten unter dem Motto »Nein zur Besatzung, nein zur Annexion, ja zur Demokratie!» unter anderem die Linkszionisten von Meretz sowie das kommunistische Parteienbündnis Hadash. Nitzan Horowitz, der Vorsitzende der Meretz-Partei, die bei den Wahlen im März zwei Sitze in der Knesset bekam, nannte die Pläne ein »Kriegsverbrechen» und sagte, die von der Pandemie geplagten Israelis müssten im Falle ihrer Verwirklichung einen hohen Preis zahlen.

Manch einer glaubt, dass es bei der Ankündigung bleiben wird, etwa der Journalist Anshel Pfeffer, der eine Biographie Netanyahus verfasst hat. »Es wird nicht passieren, weil er die Annexion nicht wirklich will. Zumindest nicht jetzt», schreibt er in Haaretz. »Netanyahu hatte sich ganz auf das Thema als Hebel konzentriert, um die rechte Basis an die Wahlurne zu bringen.» Nun aber brauche er sie nicht mehr. Schließlich wird der Ministerpräsident dieses Jahr 71 Jahre alt und muss wohl keine Wahl mehr gewinnen. Andere dagegen sind der Überzeugung, dass Netanjahu genau deshalb die ­Annexion vorantreiben könnte. »Er glaubt, dass seine Zeit an der Macht bald zu Ende gehen könnte», so Haviv Rettig Gur in der Times of Israel. »Die Frage, wie sein Erbe aussehen wird, beschäftigt ihn deshalb.» Nur muss er sich entscheiden – entweder für die Allianz mit den sunnitischen Staaten oder aber für eine Annexion. Beides zusammen dürfte schwerlich zu haben sein.