Flüchtlingsunterkünfte in Deutschland bleiben Covid-19-Hotspots

Flucht in den Infektionsherd

In deutschen Flüchtlingsunterkünften steigt die Zahl der mit Sars-CoV-2 Infizierten weiter stark. Die teils wochenlange Quarantäne kann die Bewohner psychisch schwer belasten.

Die Bilder auf Fahad Kapoors* Mobiltelefon zeigen verschmierte Herd­platten und verdreckte Toiletten. Der Boden in den Bädern ist übersät mit leeren Plastikflaschen und Zigarettenstummeln. »Hier ist alles voller Keime«, sagt Kapoor. Die Aufnahmen stammen aus dem Allianzhaus, einer Sammelunterkunft für Geflüchtete in Mainz (Rheinland-Pfalz), in der der 35jährige mit seiner Frau und seinen vier Kindern wohnt. Vor etwa zwei Wochen hatten sich hier zunächst eine zehnköpfige Familie und weitere Personen mit Sars-CoV-2 angesteckt. Eine Woche später wurden 35 weitere Infektionen nachgewiesen. Eine Sprecherin der Stadt Mainz sagte auf Anfrage der Jungle World, dass die positiv und die negativ getesteten Personen getrennt unter­gebracht worden seien, wobei man in letzterer Gruppe die mit Symp­tomen von denen ohne separiert habe.

»Es heißt, die Hygienemaßnahmen seien ausreichend, trotzdem werden sanitäre Anlagen oder die Kantinen gemeinschaftlich genutzt.« Birgit Naujoks, Geschäftsführerin des Flüchtlingsrats Nordrhein-Westfalen

Nachdem die Testergebnisse von Kapoor und seiner Familie negativ ausgefallen waren, wurden sie vorüber­gehend in eine Wohnung im Mainzer Stadtteil Gonsenheim verlegt. Sie ­wissen noch nicht, ob sie in die Unterkunft im Allianzhaus zurückkehren müssen. In diesem leben drei bis acht Personen in einem Zimmer, die Küche wird von mehreren Familien benutzt. Einmal sei ein Arzt in die Unterkunft gekommen, der die Bewohner über Abstandsregeln informiert habe, sagt Kapoor. Andere Maßnahmen seien aber nicht ergriffen worden. Ansteckungen zu vermeiden, sei angesichts der Umstände unmöglich. »Wir haben große Angst zurückzukehren. Meine Familie und alle Leute, die wir kennen, haben Angst«, so der 35jährige.

In zahlreichen Gemeinschaftsunterkünften infizieren sich weiterhin überdurchschnittlich viele Menschen mit Sars-CoV-2. So wurde in einer Einrichtung in St. Augustin in Nordrhein-Westfalen bei mehr als der Hälfte der etwa 300 Bewohnerinnen und Bewohner eine Infektion nachgewiesen. In einem sogenannten Ankerzentrum in Regensburg fielen Ende Mai 56 von 127 Test­ergebnissen positiv aus. In einer Unterkunft in Frankfurt am Main wurden zur gleichen Zeit knapp 70 Fälle nachgewiesen. Hilfsorganisationen fordern seit Wochen eine dezentrale Unterbringung. »Es heißt immer, die Hygienemaßnahmen seien ausreichend, trotzdem werden sanitäre Anlagen oder die Kantinen gemeinschaftlich genutzt, das ist also immer noch ein großer Infektionsherd«, sagte Birgit Naujoks, die Geschäftsführerin des Flüchtlingsrats Nordrhein-Westfalen, der Jungle World.

Wie zuvor schon drei sächsische Verwaltungsgerichte entschied Anfang Mai auch das Verwaltungsgericht Münster, dass der in den Ländern vorgeschriebene Infektionsschutz auch in Flüchtlingsunterkünften gelten müsse. Es sei Aufgabe des Landes Nordrhein-Westfalen, »über die Zustände vor Ort Kenntnis zu haben und bei Defiziten für Abhilfe zu sorgen«, heißt es in dem Beschluss.

Das Land Nordrhein-Westfalen mietete im Mai zwar mehrere Jugendherbergen an, um die vorhandenen Einrichtungen zu entlasten und Risikogruppen separat unterzubringen. Von den 60 Personen, die in ­einer Jugendherberge in Bonn untergebracht worden waren, hatten sich Ende Mai allerdings zwölf mit Sars-CoV-2 infiziert. Naujoks zufolge werden die Bewohner meist in Gruppen eingeteilt, die voneinander isoliert bleiben sollen, um das Ansteckungsrisiko einzudämmen. »Das bringt aber wenig, wenn Mitarbeitende dann wieder mit allen Gruppen in Kontakt kommen«, sagt sie.

Weil es selten möglich ist, alle positiv getesteten Personen isoliert unterzubringen, und Abstandsregeln wegen der beengten Wohnverhältnisse nicht eingehalten werden können, werden viele Unterkünfte unter Quarantäne gestellt, häufig mehrere Wochen lang. Das Ankerzentrum in Geldersheim in Unterfranken, in dem im April ein 60jähriger an Covid-19 gestorben war, stand insgesamt fast neun Wochen unter Quarantäne. Die Bezirksregierung hatte zunächst festgelegt, dass diese bei jedem neu nachgewiesenen Fall verlängert werden müsse. Vergangene Woche wurde die Quarantäne allerdings aufgehoben. Knapp 140 Menschen hatten sich bis dahin mit Sars-CoV-2 infiziert.

Der Kinder- und Jugendpsychotherapeut Patrick Klug, der für die Organisation »Zentrum Überleben« mit Flüchtlingen zusammenarbeitet, sagte der Jungle World: »Die meisten dieser Menschen sind traumatisiert und haben Erfahrungen damit gemacht, eingesperrt zu sein. Das erneut zu erleben und sich auf engstem Raum aufhalten zu müssen, wirft viele in ihrer Ent­wicklung wieder zurück.« Besonders schwierig sei es, wenn durch die Beschränkungen wichtige Aktivitäten wegfielen, beispielsweise die Teilnahme am Schulunterricht. In Deutschland hat der Unterricht Mitte Mai für viele Klassen wieder begonnen. Steht eine Sammelunterkunft unter Quarantäne, können die dort lebenden Kinder nicht zur Schule gehen, unter Umständen für mehrere Wochen. Auch viele sogenannte Willkommensklassen, deren Unterricht eigens auf geflüchtete Kinder und Jugendliche ausgerichtet ist, sind vorerst bis zum Sommer ausgesetzt. »Gerade für Jugendliche mit posttraumatischen Belastungsstörungen ist der Faktor Schule sehr strukturgebend. Wenn das wegbricht, können Symptomatiken sich wieder verschlimmern«, so Klug.

Selbst die Teilnahme am Online-Unterricht ist vielen Kindern nur eingeschränkt möglich, weil die dafür ­nötigen Geräte fehlen oder die Internetverbindung in den Unterkünften zu schlecht ist. In einer Unterkunft in Henningsdorf in Brandenburg, die seit Mitte April unter Quarantäne steht, gibt es einem Bericht der Taz zufolge überhaupt kein W-Lan. Das erschwert auch den Zugang zu psychotherapeutischer Unterstützung, auf die viele Geflüchtete gerade in dieser Situation angewiesen sind. »Über Telefon und Video kann sicherlich manches aufgefangen werden, aber die technischen Voraussetzungen für Videosprechstunden liegen bei weitem nicht in allen Unterkünften vor«, sagte Martin Schönpflug vom »Zentrum Überleben« der Jungle World.

Die Quarantäne in der Flüchtlingsunterkunft im Allianzhaus soll nach Angaben der Stadt Mainz am 9. Juni aufgehoben werden. Fahad Kapoor hofft sehr, dass er mit seiner Familie auch danach in Mainz-Gonsenheim bleiben darf. »Hier kann ich meine Kinder schützen«, so der 35jährige, »in der anderen Unterkunft geht das nicht.«

* Name von der Redaktion geändert.