»Ein Effekt der Spionage ist die Selbstzensur.«
Wie kürzlich bekannt wurde, hat der kolumbianische Militärgeheimdienst von Februar bis Dezember 2019 mehr als 130 Personen ausspioniert – Mitarbeiter von Nichtregierungsorganisationen, Politiker, Gewerkschafter und Journalisten. Die Militärangehörigen trugen persönliche Daten über Familienangehörige, Freunde und Kollegen sowie Telefonnummern und Adressen, Kontakte zu Politikern und journalistischen Quellen zusammen. Daraus erstellten sie Bewegungsprofile und Organigramme, die die Wochenzeitung ›Semana‹ teilweise veröffentlichte. Warum spionierte die Armee diese Personen aus?
Das ist eine der Fragen, die die inzwischen angelaufenen behördlichen Ermittlungen klären sollen beziehungsweise die die Armee selbst beantworten muss. Die betroffenen Journalisten haben unterschiedliche Profile. Es finden sich etablierte Medienschaffende mit nationaler Reichweite unter ihnen, die schon in der Vergangenheit Opfer von Spionage geworden sind. Dann eine Reihe ausländischer Journalisten oder Korrespondenten, die für die New York Times, die Washington Post, das Time Magazine, National Geographic und das US-amerikanische Radionetzwerk NPR aus Kolumbien berichtet haben.
»Wenn du in einer Konfliktregion über die ELN oder eine Abspaltung der Farc schreibst, wirst du entführt oder ermordet.«
Zudem waren junge Medien und Nachwuchsjournalisten Ziel der Operation sowie eine Gruppe von freien Fotografen, die in den Konfliktregionen Kolumbiens arbeiten und zugleich als Mittelsmänner für ausländische Kollegen tätig waren. Sie alle haben Reportagen geschrieben oder Recherchen betrieben, die die Armee betreffen oder diese kritisieren. Meine Hypothese ist, dass die Operation sich gegen die Presse und ihre Quellen richtete. Zum Beispiel war das Anwaltskollektiv José Alvear Restrepo, das Opfer staatlicher Menschenrechtsverbrechen vertritt, eine Quelle des von jungen Datenjournalisten betriebenen Portals Rutas de Conflicto, das zu illegalen Verträgen zwischen der Armee und Bergbaufirmen recherchierte. Beide finden sich in den Geheimdienstdokumenten.
Wie kommt die Armee dazu, diese sogenannten Geheimordner über Journalisten anzulegen?
Ziel dieser Operation waren Personen, die Tätigkeiten nachgehen, die in einer Demokratie vom Gesetz gedeckt sind sind, zum Beispiel Journalisten. Es geht nicht nur um die Art und Weise, wie diese Operation stattfand, sondern auch darum, dass der Geheimdienst die Journalisten als legitimes Ziel betrachtet. Keiner der betroffenen Journalisten stellt eine Bedrohung dar, aber der Geheimdienst stellt sie auf die gleiche Stufe wie beispielsweise ein Mitglied illegaler bewaffneter Gruppen. Und es geht darum, wie um sie herum »gegraben« wurde, um ihnen zum Beispiel völlig vermessener Weise Beziehungen zur Guerilla ELN zu unterstellen, nur weil man als Journalist einen ELN-Kommandanten interviewt hat. Es wurden Verbindungen hergestellt und Schlussfolgerungen gezogen, die schlicht unwahr sind.
In einer demokratischen Gesellschaft steht es der Presse frei, die staatlichen Institutionen zu kritisieren, auch die Armee. Dies ist in Kolumbien von umso größerer Relevanz, weil die Armee nicht nur eine sehr wichtige Institution ist, sondern im Laufe ihrer Geschichte – auch im Jahr 2019 – in schwere Menschenrechtsverletzungen verwickelt war. Gemäß der kolumbianischen Verfassung obliegt es den Ordnungskräften, die öffentliche Debatte zu garantieren, zum Beispiel im Kongress oder in den sozialen Medien. Sie haben nicht das Recht, gegen Journalisten vorzugehen, wenn deren Beiträge ihnen nicht gefallen.
Die Regierung unter Präsident Iván Duque hat die Spionage als illegal bezeichnet und zwölf Offiziere entlassen. Reicht das?
Das ist immerhin etwas, aber noch ist vieles ungeklärt. Semana hat nur einen Teil der geleakten Daten veröffentlicht. Es ist wichtig, dass die Opfer das ganze Ausmaß der Spionage kennen. Nur einige hatten bislang inoffiziell Zugang zu diesen Akten. Für die Gesellschaft wäre es wichtig zu wissen, auf welcher Hierarchiestufe die Befehle erteilt wurden, welche staatlichen Instanzen sich zur Verfügung gestellt haben und an wen die gesammelten Informationen weitergegeben wurden. Denn eine derart umfangreiche Überwachung von mehr als 130 Personen vollbringt man nicht mit zwei Soldaten. Sie erfordert hohen technischen und personellen Aufwand.
Die Regierung hat behauptet, dass es sich um illegale Aktivitäten ohne ihre Billigung handele. Akzeptierte man diese Position, wäre die Frage, was schiefgelaufen ist, denn die Geheimdienste müssen einer Kontrolle unterliegen, damit so etwas nicht passiert und sich in Zukunft nicht wiederholt.
Was muss geschehen, damit sich solche staatlichen Spionageaktionen nicht wiederholen?
Dafür bedarf es umfassender Aufklärung, beispielhafter Strafen und Korrekturen. Bei letzteren muss zum einen deutlich gemacht werden, dass es für solche Vorgehensweisen null Toleranz gibt und andererseits muss die interne und externe Kontrolle der Geheimdienste auf den Prüfstand gestellt werden und der Kongress die diesbezüglich geltenden Regelungen überarbeiten.
In den vergangenen Jahren haben Polizei und Geheimdienste immer wieder illegal Personen der Zivilgesellschaft ausspioniert. Entsprechend gering war diesmal die Verwunderung.
Kolumbien ist ein Land mit sehr vielen Problemen, aber es hätte noch viel mehr, wenn es keine mutige Presse gäbe. Wenn man die vergangenen zwei bis drei Jahrzehnte betrachtet, opponierte die Presse stets gegen staatliche Übergriffe. Journalisten auszuspionieren, ist in Kolumbien deshalb zu einer gängigen Praxis geworden. Es hat in dieser Zeit keinen Präsidenten gegeben, der die Bespitzelung von Journalisten abgelehnt hätte.
Was unterscheidet die kürzlich enthüllte Operation von anderen in der Vergangenheit?
Am meisten beunruhigt mich, dass Profile von jungen Journalisten angelegt wurden. Im Vergleich zu etablierten Journalisten sind Jüngere viel verletzlicher und tragen ein höheres Risiko. Die Armee zielt hier auf einen sehr schwachen und empfindlichen Bereich des Journalismus. Neu ist zudem eine Art Besessenheit davon, was in sozialen Medien geschrieben wird. Ich wage zu behaupten, die Motivation, bestimmte Journalisten und Medien in den Blick zu nehmen, lag darin, dass ihre Arbeiten zu trending topics in den sozialen Medien wurden. Nicholas Casey beispielsweise, der Korrespondent der New York Times, hatte in einer Reportage über Anweisungen der Armeeführung berichtet, bei der Bekämpfung illegaler bewaffneter Gruppen mehr Erfolge zu erzielen und die Anzahl getöteter Krimineller und Rebellen zu erhöhen. Damit setzte er eine monatelange öffentliche Debatte in Gang, die die die Armee viel Reputation kostete. Neu ist auch die technologische Raffinesse: An Geodaten und journalistische Quellen kommt man nur durch den den Einsatz hochentwickelter Tools und Software.
Anders als beim DAS-Skandal (ein 2009 aufgedeckter Spionageskandal; der 2011 aufgelöste Inlandsgeheimdienst DAS hatte unter anderem Telefongespräche von linken Oppositionellen und Journalisten abgehört, Anm. d. Red.), als die Regierung von Álvaro Uribe (kolumbianischer Präsident von 2002 bis 2010, Anm. d. Red.) die ausspionierten Personen öffentlich stigmatisierte, hat dies die Regierung Duque nicht getan. An diesem Punkt haben wir uns weiterentwickelt. Mittlerweile gibt es keine politische Unterstützung für Spionage mehr, zumindest nicht öffentlich.
Was bedeutet es für die Journalisten, dass sie vom Geheimdienst ausspioniert wurden und dies nun öffentlich ist?
Es wird definitiv schwieriger werden, über Probleme der öffentlichen Ordnung und den bewaffneten Konflikt in Kolumbien zu berichten. Es gibt Journalisten, die Angst haben, auf die Straße zu gehen, und die deshalb um Personenschutz gebeten haben. Es ist eine Tragödie. In Kolumbien auf einer Schwarzen Liste zu stehen, ist ein enormes Risiko. Diese Listen in den falschen Händen, sagen wir eines fanatischen Antikommunisten, sind gefährlich; der sagt sich: »Diese Person steht auf der Liste, die erschieße ich.« Es gibt betroffene Journalisten, deren Quellen in den vergangenen Jahren getötet wurden. Nun steht natürlich die Frage im Raum, ob zwischen der Ermordung und der Überwachung durch das Militär ein Zusammenhang besteht. Ein weiterer Effekt der Spionage ist die Selbstzensur. Wenn du auf einer solchen Liste stehst, wirst du dir die berechtigte Frage stellen, ob du diese Themen weiterhin behandeln oder nicht lieber auf Sportreporter umsatteln solltest.
Wie hat sich die Situation für Journalisten verändert, seit 2016 ein Friedensabkommen zwischen der kolumbianischen Regierung unter Präsident Juan Manuel Santos und der Guerilla Farc (»Jungle World« 48/2016) geschlossen wurde?
Die Zahl der Übergriffe steigt. 2019 haben wir mehr als 500 Übergriffe auf Journalisten registriert, die meisten davon Drohungen, aber auch zwei Morde an Journalisten in abgelegenen Regionen. In den großen Städten hat sich die Situation gebessert, in Kleinstädten und auf dem Land verschlechtert. Wenn du dich vor zehn bis 15 Jahren (einer Hochphase des bewaffneten Konflikts, Anm. d. Red.) in einem der großen Medien zum bewaffneten Konflikt so geäußert hast, dass es einer der Konfliktparteien aufstieß, wurdest du bedroht. Inzwischen kannst du in den großen Städten relativ gefahrlos über Gewalt, Drogen und die Sicherheitskräfte sprechen. Wenn du aber in einer Konfliktregion über die ELN oder eine Abspaltung der Farc schreibst, wirst du entführt oder ermordet.
Man muss diese Zahlen aber im Verhältnis sehen. Vor 15 Jahren gab es weniger Medien als jetzt, in einer Zeit, in der das Internet weiter verbreitet ist. Und wir von der FLIP sind inzwischen bekannter als früher, was zur Folge hat, dass wir auch häufiger Informationen zu Übergriffen erhalten.
Pedro Vaca ist seit 2013 Direktor der kolumbianischen Stiftung für die Pressefreiheit FLIP (Fundácion para la Libertad de Prensa), die sich für die freie Ausübung des Journalistenberufs in Kolumbien einsetzt und bedrohte Medienschaffende unterstützt. Er ist Rechtsanwalt mit dem Schwerpunkt Verfassungsrecht.