Ein Gespräch über die Ordnung der Geschlechterverhältnisse unter den Bedingungen der Pandemie

»Die unsichtbare Grundlage des Kapitalismus wird sichtbar«

Der lockdown bringt eine vollkommen neue Ordnung von Reproduktionsarbeit. Ein Großteil dessen, was inzwischen an Sorgetätigkeiten vergesellschaftet oder kommodifiziert war, verlagert sich wieder zurück ins Zuhause. Ein Gespräch mit Sarah Speck, Professorin am Institut für Soziologie an der Johann-Wolfgang-Goethe-Universität in Frankfurt am Main
Interview Von

Wie geht es Ihnen?

Auch wenn ich privilegiert bin, was Wohnraum und Arbeitsplatz angeht, stehe ich derzeit unter großem Druck, und ohne Kitabetreuung für mein Kind ist es nicht einfach.

Kommen Sie zum Publizieren?

Natürlich nicht. Die Annahme ist absurd, man könne in der derzeitigen Situation weiterhin seinen vollen Job mit allen Erwartungen neben der ganzen anfallenden Reproduktions- und Sorgearbeit erfüllen. Ich versuche, Lehre, Prüfungen und Betreuung zu schaffen, vielleicht das eine oder andere Textchen zu schreiben. Ernsthaft zu forschen, ist hingegen schwierig. Und das unterscheidet die Situation von der jener, die von Sorgearbeit befreit sind oder sich davon befreit sehen, also etwa Kinder haben, sich aber nicht als zuständig für sie zu betrachten.

Dennoch haben Sie in die vergangenen Wochen ein soziologisches ­Forschungsprojekt über die Auswirkungen der Coronakrise gemacht.

»Das Zuhause war immer ein Ort, um neue Formen der Ausbeutung zu erfinden und zu erproben.«

Mein Team und ich haben Interviews geführt. Alleine hätte ich das auch gar nicht machen können. Aus Sicht der Soziologie und der Geschlechterforschung war die Situation hochinteressant und ist es natürlich noch immer.

Warum?

Durch die Maßnahmen und den verordneten Rückzug ins »Private« wird auf einmal jene »unsichtbare Grundlage des Kapitalismus«sichtbar, von der die marxistisch-feministische Analyse seit einem Jahrhundert spricht. Und zwar die Ausbeutung systematisch entwerteter Reproduktions- und Sorgetätigkeiten, also von Arbeiten, die dem Lebenserhalt dienen. Wir sehen zum einen, dass man sich selbstverständlich auf jene Arbeiten verlässt, die jetzt als »systemrelevant« gelten; das schließt vor allem auch die Arbeit im Gesundheitssektor und in der Pflege ein. Zum anderen verlässt man sich selbstverständlich auf diejenigen Arbeiten, die im Privaten verrichtet werden. Das ist, wie unsere Gesellschaft im Normalzustand funktioniert. Jetzt bringt der lockdown eine vollkommen neue Ordnung von Reproduktionsarbeit. Ein Großteil dessen, was inzwischen an Sorgetätigkeiten vergesellschaftet oder kommodifiziert war, verlagert sich wieder zurück ins Zuhause.

Wie haben Sie das untersucht?

Wir wollen anhand von Telefoninterviews rekonstruieren, wie sich in ganz unterschiedlichen sozialen Lagen das Private neu ordnet. Wir haben Menschen in ganz unterschiedlichen Lebenslagen befragt, solche mit Aufenthaltsstatus und solche ohne, heterosexuelle Kleinfamilien, aber auch Wohngemeinschaften und Menschen in queeren Lebenskonstellationen. Auf dieser Basis untersuchen wird, wie diese Menschen momentan den Alltag bewältigen.

Was haben Sie dabei beobachtet?

Die Situationen unterscheiden sich ganz extrem. Wenn jemand Vollzeit im Homeoffice arbeitet und zugleich Kinder versorgen soll, ist das eine vollkommen andere Problemlage als für jemanden, der oder die in einem sogenannten systemrelevanten Beruf arbeitet und Kinderbetreuung bekommt, und nach einem zur Zeit besonders belastenden Arbeitstag noch beim Einkauf in langen Schlangen stehen muss.

Im Homeoffice arbeiten vor allem Angehörige der Mittelklasse, da ja nur bestimmte Tätigkeiten so ausgeführt werden können. Auch ihre Lage ist zugespitzt, weil parallel alle Reproduktions- und Sorgetätigkeiten zu Hause geleistet werden müssen und gleichzeitig die klassischen Versorgungsnetzwerke wegfallen. Großeltern, Babysitterinnen und Freundschaften – all diese Sorgebeziehungen waren in den ersten Wochen ausgesetzt. Das heißt, es ist eine völlig neue Belastung, wenn täglich Mahlzeiten gekocht werden müssen, viel mehr eingekauft werden muss und die oftmals zu kleine Wohnung viel intensiver genutzt wird.

Ganz anders war die Situation einer Hartz-IV-Empfängerin, die wir befragt haben. Sie lebt mit ihrem erwachsenen Sohn zusammen, der ebenfalls Transferleistungen bezieht, weil er schwer chronisch krank ist. Bei ihr steht die materielle Sorge im Vordergrund, wie sie bis Ende des Monats genug zu ­essen bekommt.

Was bedeutet das alles mit Blick auf Geschlechterverhältnisse?

Es ist tatsächlich so – das zeigt unsere Studie, das zeigen aber auch die ersten quantitativen Studien –, dass das Muster, das aus geschlechtersoziologischer Sicht zu erwarten war, sich voll bestätigt: Den Großteil der anfallenden Sorgearbeit übernehmen weiblich sozialisierte Personen. Das gilt auch für Homeschooling und Kinderbetreuung.

Aus geschlechtersoziologischer Perspektive muss man hinzufügen, dass im Rahmen von stay at home das Zuhause als Ort der Geborgenheit und des Wohlbefindens gilt. Das ist aus feministischer Sicht in mehrerer Hinsicht zu hinterfragen und zu kritisieren. Denn es ist ein Ort der Aufrechterhaltung alltäglich notwendiger Arbeit, die in dieser Situation noch viel umfang­reicher ist. Und es ist für viele ein Ort der Gewalt.

Wurde das Zuhausebleiben nicht zunächst sogar von vielen als willkommene Unterbrechung begrüßt?

Die Interviews zeigen, dass viele in den ersten Wochen ein Gefühl der Entschleunigung empfanden, ein Aus­setzen des neoliberalen Alltagsregimes, das ja auch schon von hoher Belastung geprägt ist. Es gab einen plötzlichen Stillstand, in dem sich alle neu sortieren mussten und der für viele einen Moment zum Aufatmen bedeutete. Nach drei bis vier Wochen ist das gekippt. Man stellte fest, dass man sein normales Leben mit den entsprechenden An­forderungen weiterführen muss, und es war klar, dass das nicht lange gutgeht.

Die Kontaktbeschränkungen werden inzwischen gelockert, nicht nur in Deutschland. Man hat einen Schock erlebt, aber inwiefern hat das langfristige Auswirkungen?

Zunächst einmal ist nach den lockdowns mit einer immensen wirtschaftlichen und sozialen Krise zu rechnen. Deren Folgen treffen Menschen in unterschiedlichen sozialen Lagen sehr ungleich. Wir wissen aber auch aus feministischer Erfahrung und Analyse zudem, dass das Zuhause immer ein Ort war, um neue Formen der Ausbeutung zu erfinden und erproben. Der gegenwärtige Digitalisierungsschub wird hochgradig ambivalente Folgen haben. Was jetzt eingeübt wird – Homeoffice, ständige Telefon- und Videokonferenzen –, wird die Arbeitswelt enorm verändern. Für das Kapital wird sichtbar, in welchem Maße man Büroräume einsparen und prekäre Beschäftigungs­formen ausbauen kann.

Schon die lockdowns und Produktionsunterbrechungen waren häufig das Ergebnis von Widerstand und Streiks, sie wurden durchaus gegen das Kapitalinteresse durchgesetzt. Inwiefern ließ sich denn innerhalb der lockdowns so etwas wie eine widerständige Praxis beobachten?

Was Fürsorgebeziehungen angeht, entstanden in dieser Notlage sehr schnell Nachbarschaftsinitiativen. Spannend finde ich auch, dass in den letzten zwei bis drei Wochen neue Modelle gegenseitiger Kinderbetreuung etwa ­innerhalb von Mietshäusern erprobt wurden. In Hessen ist es seit etwa zwei Wochen erlaubt, sich mit drei Familien zusammenzutun. Aber solche neuen communities of care wurden schon davor praktiziert, auch wenn dies gegen den Wortlaut der Kontaktsperre verstieß.

Aber bedeutet diese Praxis nicht auch eine Reprivatisierung zuvor vergesellschafteter Aufgaben in der Kinderbetreuung?

Das kann man schon so sehen. Aber zunächst einmal besteht eine unmittelbare Notlage, in diesem Fall die Iso­lation der Haushalte. Die Maßnahmen nehmen eine bestimmte Form von Kleinfamilie als Norm an, die bei weitem nicht der Realität entspricht. Sie ­gehen von kleinen Versorgungsgemeinschaften aus, die gemeinsam in einem Haushalt leben. Tatsächlich wohnen viele Sorgezusammenhänge aber heutzutage in unterschiedlichen Haushalten, Eltern leben nicht immer zusammen und so weiter. Diese Realität trifft auf die Maßnahmen zum Infektionsschutz, die von einer ganz anderen Vorstellung ausgehen. Selbst die klassische Kleinfamilie lebt anders, sie lebt nicht in diesem zurückgezogenen Raum. Sie hat andere Fürsorgenetzwerke, die nun auch durchbrochen sind.

Sehen Sie in dieser Krise auch ein emanzipatorisches Potential?

Nicht unmittelbar. Eine Krise bedeutet immer ein Aufbrechen und Aussetzen von Routinen und festgefahrenen Strukturen. Zurzeit sieht es nach einer Verfestigung von Strukturen sozialer Ungleichheit aus, unter anderem auch durch das Zurückwerfen auf traditionelle Familienstrukturen.

Gerade die erschwerten Bedingungen zwingen einen aber oft, zu hinterfragen, wie die Gesellschaft strukturiert ist – und somit auch zu fragen, ob es nicht anders besser wäre. In diesen spontan entstandenen Netzwerken sehe ich durchaus auch ein emanzipatorisches Moment.

Und was setzt sich stärker durch, die regressiven oder die emanzipatorischen Tendenzen?

Wir erleben eine Verschärfung und Zuspitzung gesellschaftlicher Probleme. Die Situation ist aber von einer großen Offenheit geprägt, in der wir noch nicht sehen können, was geschehen wird. In den vergangenen Wochen ist ­sozialpolitisch viel Unerwartetes passiert, etwa das Aussetzen von Hartz-IV-Sanktionen. Ich will insofern nicht dieses einseitige Bild einer Retraditionalisierung und Zuspitzung sozialer Ungleichheit zeichnen. Politisch ist es wichtig, auch der Möglichkeiten gewahr zu werden, die eine Krise immer enthält, um dort zu intervenieren. Es gilt auch gerade jetzt, um eine andere und bessere Gesellschaft zu kämpfen.