Bei der Kritik an den sozialen Medien sollte man nicht vergessen, was ihr Zweck ist

Total vernetzt in der Isolation

Das Internet strukturiert die sozialen, kommerziellen und Arbeits­beziehungen der Menschen grundsätzlich neu. Was sollte man daran kritisieren?
Essay Von

Als Mitte März die meisten europäischen Länder Ausgangsbeschränkungen verhängten, um die Verbreitung des neuartigen Coronavirus zu verlangsamen, sorgte sich der EU-Kommissar für Binnenmarkt und Dienstleistungen, Thierry Breton, um die Stabilität des Internets. Was würde passieren, fragte er sich, wenn Hunderte Millionen Menschen gleichzeitig zu Hause bleiben? Wenn Konferenzen online stattfinden, Kinder ihre Hausaufgaben am Computer machen und das gesamte Sozialleben auf die eigenen vier Wände zusammenschrumpft, würde das die Internetnutzung immens verstärken, erwartete Breton. Um eine Überlastung der Netze zu verhindern, sprach der EU-Kommissar mit den Geschäftsführern der großen Streaming-Dienste wie Youtube und Netflix, die daraufhin die Qualität ihrer Videos reduzierten. Tatsächlich berichten Netzbetreiber von einem stark gestiegenen Datenfluss, seit die Menschen zu Hause bleiben müssen.

Der App ist es egal, warum die Nutzer klicken, scrollen und schreiben, Hauptsache, sie bleiben am Bildschirm.

Es geht bei weitem nicht nur um Telefonkonferenzen. Die Gaming-Plattform Steam verzeichnete Anfang April mit 24,5 Millionen gleichzeitig aktiven Spielern einen Nutzerrekord. Tinder habe Ende März mit über drei Milliarden swipes an einem Tag ebenfalls einen historischen Höchstwert erreicht, gab ein Sprecher bekannt. Soziale Medien können auch in der Vereinzelung Beziehungen stiften. Das ist vielleicht der Zweck der trendigen Online-Konzerte von Musikern wie dem Pianisten Igor Levit. Die Influencerin Louisa Dellert rief einen täglichen »Livestream gegen die Einsamkeit« ins Leben. In Dänemark verabredeten sich 170 000 Menschen per Facebook, um in einer merkwürdig zwanglosen Untertanengemeinschaft Königin Margarethe II. zum 80. Geburtstag ein Ständchen zu bringen.

Immer mehr Bestattungsunternehmen bieten mittlerweile die Teilnahme an Beerdigungen per Livestream an. Es gibt sogar ein Berliner Start-up, das diese Dienstleistung anbietet. Die ­Influencer-Marketingagentur Obviously berichtete, die impressions und en­gagements der Nutzer mit ihren Werbeposts hätten auf den Plattformen ­Instagram und Tiktok um 22 beziehungsweise 27 Prozent zugenommen. Die Agentur kündigte an, ihre über 60 000 Menschen umfassende Armee von Influencern zu mobilisieren, um Informationen der Weltgesundheitsorganisation über das Virus zu verbreiten.

»Coronavirus bedeutet Isolation. Und Isolation bedeutet soziale Medien«, hieß es auf dem Branchenportal PR Week. Dieser Zusammenhang kann erklären, warum viele Menschen die Ausgangsbeschränkungen nicht als tiefen Einschnitt erfahren. Derzeit wird über die bereits erfolgte Einschränkung des Demonstrations- und Versammlungsrechts diskutiert. Viele Orte, die der Vorstellung der meisten Menschen nach das öffentliche und soziale Leben möglich machen, wo man also Freunden, Kollegen und Fremden begegnen konnte, sind wie ausgestorben. Doch online ist die Öffentlichkeit immer noch da. Zwar verzeichnen auch Zeitungen, allerdings vor allem online, eine stark gewachsene Nach­frage. Aber für das Gefühl, immer noch mit der Gesellschaft verbunden zu sein, dürfte social media wichtiger sein. Wie viel belastender wären die Kontaktsperren, gäbe es nicht die Möglichkeit, online mit anderen Menschen in Kontakt zu bleiben? So aber wird während der Ausgangsbeschränkungen vor allem klar, in welchem Ausmaß das Leben bereits zuvor online stattfand und künftig wohl noch mehr stattfinden wird. Die Technologien der unbegrenzten Kommunikation, der allgemeinen Vernetzung und der Präsentation des Privatlebens passen perfekt dazu, alleine oder im Kleinfamilienkreis zu Hause zu hocken.

Von Roy Amara, dem ehemaligen Vorsitzenden des im kalifornischen Palo Alto gelegenen »Institute for the Future«, stammt der Ausspruch, Menschen würden die kurzfristigen Folgen einer Technologie meist über-, die lang­fristigen Folgen aber unterschätzen. So scheint es sich mit dem Internet zu verhalten. Bei der überdrehten Rhetorik aus der Frühphase des Silicon Valley, als man noch überzeugt war, das Internet werde das Leben und die Arbeit zum Besseren verändern, kann man mittlerweile nur noch die Augen ­rollen, zumal die Technologie damals noch völlig unterentwickelt, geradezu belanglos war. Heutzutage ist das Nachdenken über das Internet statt von ­utopischen Erwartungen eher von Skepsis und auch Überforderung geprägt. Denn mittlerweile, da das Internet anfängt, das Leben, die sozialen, kommerziellen und auch Arbeitsbeziehungen grundsätzlich neu zu strukturieren, und aus dem täglichen Leben von Milliarden Menschen nicht mehr wegzudenken ist, ist es auch in der trostlosen Realität des Kapitalismus, der Lohnarbeit und der kommerziellen Massenkultur angekommen. Das bietet keinen schönen Anblick, der zu freudigen Utopien reizt.

So sehr auch die Marketingmaschinerie des Silicon Valley immer noch den Mythos der Start-ups, Erfinder und Entrepreneure bemüht, ist das Internet heutzutage eher von gewaltigen Monopolen geprägt. Vor allem Amazon ­profitiert von der gegenwärtigen Schließung des Einzelhandels und stellt hastig Tausende neue Mitarbeiter ein. Eine in den USA noch mehr als in Deutschland verbreite App ist Instacart. Mit dieser kann man für ein paar Dollar einen Arbeiter zum Einkaufen schicken. Ende März berichtete die New York Times von Streiks bei Amazon und Instacart. In der Krise fordern die Arbeiter bessere Bezahlung und Schutz ihrer Gesundheit, bemerken aber auch, dass der höhere Arbeitskräftebedarf ihnen die Chance gibt, mehr Lohn zu fordern. Andere streichen den Profit ein: Das Vermögen von Jeff ­Bezos, Gründer und Leiter von Amazon, war bis Mitte April dank seit Jahres­beginn steigender Aktienkurse um 23,6 Milliarden Dollar größer geworden.

Der ideale »content creator«
In der gegenwärtigen Situation zu Hause arbeiten zu können, ist ein gewisses Privileg, wenn auch ein zweifelhaftes. Viele arbeiten derzeit zum ersten Mal im Homeoffice. Dabei hat das Internet längst eine andere Art der Heimarbeit hervorgebracht – prekär, atomisiert und ungebunden. Viele Dienstleister und Selbständige, auch Journalisten, können dank des Internets von zu Hause aus arbeiten. Das globale Clickworker-Proletariat ist für ein paar Dollar mietbar, um von zu Hause aus Datenbanken zu pflegen, Inhalte und Postings zu bewerten und zu kategorisieren, Foren und Plattformen auf bestimmte Inhalte zu überwachen oder künstliche Intelligenzen zu trainieren. Das Internet erlaubt es auch großen Firmen, einzelne Arbeitsschritte und Dienstleistungen, vor allem im IT-Bereich, in Billiglohn­länder auszulagern.

Die gegenwärtige Krise dürfte den Trend zur internetgestützten Heim­arbeit noch verstärken. Nicht nur, weil sowieso viele zu Hause sitzen, sondern auch, weil zahlreiche Geschäfte und Arbeitsplätze, die nicht nach Hause verlagert werden können, durch die Wirtschaftskrise vernichtet werden. »Du bist vielleicht kein Arzt oder Kran­kenpfleger, aber du hast eine wertvolle Fähigkeit«, schrieb etwa die Plattform Onlyfans, auf der sogenannte Performer Streams, Videos und Fotos, oft erotischer Art, vermarkten können. »Eine Fähigkeit, die dich inspirieren kann, mit der du Geld verdienen kannst, und mit der du die Stimmung in deinen Online-Communities in dieser Zeit des ­social distancing heben kannst: content creation.« Das ist der ideale content creator, wie solche Vermarktungsplattformen ihn entwerfen: inspiriert von sich selbst, beseelt von der Mission, mit seiner community zu kommunizieren und diese positiv zu beeinflussen; selbst die Krise nutzt er als Chance. Denn für die Plattformen ist die Krise vor allem eine Chance.

Der Trend zur Heimarbeit wirft für viele Unternehmen ein Problem auf: Wie kann man die Überwachung der Mitarbeiter, die im Büro zum Alltag gehört, auch im Homeoffice aufrecht­erhalten? Die Wirtschaftsnachrichtenagentur Bloomberg berichtet vom steigenden Absatz bei Überwachungssoftware, mit der alle Aktivitäten der Arbeiter, jeder Tastendruck und jeder Besuch einer Website, aufgezeichnet werden können. Die Programme haben dystopisch klingende Namen wie »Time Doctor«, »Teramind«, »Vericlock«, »Inneractiv«, »Activtrak« und »Hub­staff«. Sie können auch individuelle Produktivitätsprofile erstellen, in die etwa die Zahl der geschriebenen E-Mails einfließt. Einige Arbeiter berichten auch, dass von ihnen verlangt werde, den ganzen Tag in einem Videoanruf eingeloggt zu bleiben, damit man sie bei der Arbeit beobachten könne.

Instagram essen Seele auf
Am 14. April wurde in Berlin ein Brandanschlag auf eine Datenleitung zum Fraunhofer-Heinrich-Hertz-Institut verübt. In einem auf dem Internetportal Indymedia veröffentlichten angeblichen Bekennerschreiben heißt es, das Motiv sei der Protest gegen die Ausweitung der staatlichen Herrschaft in der Coronakrise gewesen. Im Heinrich-Hertz-Institut wird eine der sogenannten ­Corona-Apps entwickelt, mit denen die Bundesregierung die umfassende Überwachung Infizierter sicherstellen will. Die Gemeinsame Forschungs­stelle der EU-Kommission arbeitet seit Wochen mit Telekommunikations­anbietern und Firmen wie Facebook zusammen, um aggregierte Bewegungsprofile der europäischen Bevölkerung zu erstellen. Corona-Apps, wie sie auch von Apple und Google bald auf Smartphones hochgeladen werden dürften, werden vermutlich noch zielgenauer aufzeichnen können, mit wem die Nutzer Kontakt hatten.

Der Text der »Vulkangruppe« ist in dem für linksradikale Bekennerschreiben oftmals typischen apokalyptischen Jargon gehalten. »Die Geschwindigkeit der täglichen Veränderungen ist kaum zu verarbeiten«, heißt es. »Krisen werden immer als Katalysatoren für repressive Regulationen der Bevölkerung genutzt, wenn eine revolutionäre Kraft nicht andere Akzente setzt.« Schon jetzt würden »die konzerneigenen Algorithmen hinter den Apps« den Tagesablauf vieler Menschen bestimmen. Die Verlagerung des Lebens ins Internet beschleunige diesen Prozess: »Hier formiert sich Gesellschaft neu. Hier findet Gewöhnung statt, hier verändert sich Gesellschaft in einem Tempo, dessen Preis – die totale Manipulierbarkeit und damit Beherrsch­barkeit – uns in allen Einzelheiten erst in den nächsten Jahren klar werden wird.« Deshalb probe die Gruppe den Aufstand gegen die »digitale Zurichtung der Gesellschaft«. Es sind sicher nicht nur Linksradikale, die das, was die US-amerikanische Autorin Shoshana Zuboff den »Überwachungskapitalismus« nennt, kritisch sehen, also die voranschreitende Kommodifizierung von Informationen und persönlichen Daten sowie die stärkere Überwachung des Alltags, die damit einhergeht. Doch mit Blick auf die Tatsache, dass viele sich längst daran gewöhnt haben, dass ihre Smartphones jeden Schritt registrieren und potentiell jedes Wort, das sie sprechen, aufzeichnen können, wirkt das Unbehagen an einer staatlichen Corona-App etwas übertrieben.

Ähnlich ist es mit der Diskussion über die Sucht nach sozialen Medien, denn längst geht es ja nicht um das Verschwenden, sondern das tägliche Verleben von Zeit. Aufrufe zu einem digital detox oder größerer Disziplin angesichts der Verlockungen des Onlinelebens wirken wie der Appell zum Diät­halten: ein gegen die Schwäche des Individuums gerichtetes Moralisieren. »Unfollow: Wie Instagram unser Leben zerstört«, heißt das kürzlich erschienene Buch der Journalistin Nena Schink, in dem sie sich mit ihrer Sucht nach der Selbstinszenierung auseinandersetzt und aus der Welt der mehr oder weniger professionellen Influencer berichtet. Instagram »schadet meiner Seele«, lautet Schinks Fazit. Die App nutze den Sozialneid der Menschen aus, ihr Bedürfnis nach Bestätigung und ihre Sucht danach, selbst einmal wie eine prominente Persönlichkeit zu wirken. In solchen Äußerungen steckt immer auch die Warnung, sich nicht von der kommerziellen Scheinwelt verführen zu lassen und stattdessen ein genüg­sameres, bodenständigeres und authentischeres Leben zu führen. Die Hashtags #entschleunigen und #entschleunigung sind auf Instagram derzeit sehr beliebt.

Ende der siebziger Jahre wurde in Deutschland über die Einführung des Privatfernsehens diskutiert. Ähnlich wie in der Diskussion über social media, Filterblasen und fake news vermisch­ten sich politische und kulturelle Aspekte: Die Konservativen wünschten sich, ähnlich wie die AfD heutzutage, ein Korrektiv zum ihrer Meinung nach zu linken öffentlichen Rundfunk und Fernsehen. Ausgerechnet die SPD gab der damals umgehenden Angst vor dem kulturellen Verfall Ausdruck. Man hatte Angst vor US-amerikanischem Kommerz und italienischem Pornofernsehen. »Seit das italienische Verfassungsgericht 1976 die TV-Kanäle für private Werbesender frei gemacht hat, ist das Kommerz-Fernsehen zur Familien-Peep-Show verkommen. Herun­tergekommen wie die von Ketchup und Colgate verseuchten Sex- und Crime-Revuen, mit denen die amerikanischen TV-Ketten ihr Publikum rund um die Uhr anästhesieren. Zurechtgemacht nach Mittelwest-Geschmack, balgen sich dort, coast to coast, Silicon-Beautys und Konfektions-Kojaks um Einschaltquoten für Hundefutter- und Seifen­reklame. Porno-Fernsehen auf Italienisch und Analphabetenprogramme à la ABC sind zum Alptraum des Helmut Schmidt, seiner Genossen und der öffentlich-rechtlichen Fernsehschaffenden in Deutschland geworden«, schrieb der Spiegel 1979. Egon Bahr, damals Bundesgeschäftsführer der Partei, sah durch »das Füllen von Bauch, Auge und Ohr bis zur Übersättigung« das »bequeme Ende der Demokratie« nahen.

Der Horror, bei dem alle mitspielen
Es ist sicher zu begrüßen, dass sich heutzutage nur noch wenige angesichts dessen, was Tiktok, Twitch, Youtube und Pornostreams mit Jugendlichen machen, derart kulturpessimistisch aufplustern. Denn wer über neue Medien redet, redet meist, und heutzutage besonders, über die Lebensweise von jüngeren Menschen, und das geht selten gut. Andererseits aber ist der Mangel an Kritik an der digitalen Kulturindustrie auch Ausdruck eines antrainierten »kapitalistischen Realismus« (Mark Fisher): der Vorstellung, dass die Grundtendenzen der Gegenwart kaum zu ­ändern oder zu hinterfragen seien. »Fernsehen verblödet: Auf diese schlichte These laufen so gut wie alle land­läufigen Medientheorien hinaus, gleichgültig, wie fein gesponnen oder grob gewirkt sie daherkommen«, schrieb Hans Magnus Enzensberger 1988 im Spiegel. Lässig wies er die »Manipu­lationsthese« und das linke Gerede einer »verbitterten Minderheit der Kritiker« über den »Verblendungszusammenhang« zurück. Damit nahm er das entspannte Verhältnis vorweg, das viele mittlerweile zur Unterhaltungskultur einnehmen. Liegt das vielleicht auch daran, dass die zu den von Enzensberger verspotteten Medientheorien gehörigen Gesellschaftstheorien immer mehr abhanden kommen? Oder ist schlicht die grundsätzlich gesellschaftskritische Haltung so gut wie verschwunden, die damals noch weiter verbreitet war?

Der britische Marxist Richard ­Seymour hat mit seinem im vergangenen Jahr erschienenen Buch »The Twittering Machine« eine, wie es an einer Stelle heißt, »Horrorgeschichte« über soziale Medien vorgelegt, »aber eben eine Horrorgeschichte, bei der alle Nutzer mitspielen«. Aus dem Buch des, wie er zugibt, ehemals twittersüchtigen Seymour spricht ein feines Gespür für die zwanghaften und ­unglücklichen Verhaltensweisen, die soziale Medien bei vielen Menschen hervorrufen. Er nennt die sozialen Medien eine »Sozialindustrie«, womit er auf deren gewerblichen Zwecke hinweisen will. Es gehe nicht nur darum, die Überwachung des Privatlebens zu ermöglichen, sondern auch darum, eine Art des Soziallebens hervorzubringen, die ideale Möglichkeiten für die Vermarktung von Produkten schafft. »Die Ausbreitung des Smartphone«, schreibt Seymour, »hat die Koloni­sierung von immer mehr unserer Zeit durch diese Industrie, die immer noch mehr Aufmerksamkeit sucht, befördert. Stetig arbeitet sie sich in die Zwischenräume der Zeitblöcke hinein, die wir bei der Arbeit, beim Essen, auf der Toilette, im Sozialleben oder im Nahverkehr verbringen, und vergrößert immer weiter ihren Anteil.« Dass die Menschen so viel Zeit auf den Plattformen verbringen, sei ein Indiz für das Bedürfnis, aus der enttäuschenden Wirklichkeit des Kapitalismus zu fliehen. Das mag eine etwas plakative These sein, aber ein Blick in die morgendliche U-Bahn, wo sich fast jeder müde mit seinem Handy ablenkt, bestätigt das.

Seymours Analyse liegt eine Einsicht zugrunde, die den Blick auf soziale Medien verändert: Anders als oft an­genommen, sind die Nutzer der sozialen Medien gar nicht deren eigentliche Nutzer. Die eigentlichen Nutzer sind die tatsächlich zahlenden Kunden der Plattformen, also die Unternehmen, die den Betrieb der Plattformen finanzieren, um sich den Gebrauchswert einer perfekten Vermarktungsinfrastruktur zu sichern. Die Nutzer aber, die glauben, online ihr freies und persönliches Leben zu führen, sind eigentlich ständig bei der Arbeit.

Soziale Medien sollen süchtig machen, denn das Produkt, das an die zahlenden Kunden verkauft wird, sind die Daten der Nutzer. Deshalb sind Apps designt wie Maschinen beim Glücksspiel: Sie liefern immer wieder positive Reize und emotionale Bestä­tigung, die das gleichzeitig einsetzende Gefühl der Langeweile und Frustra­tion unterbrechen. So wie der Glücksspieler bei jedem Knopfdruck auf ­einen kleinen Gewinn hoffen kann, hoffen die Nutzer bei jedem Blick auf das Smartphone auf neue Likes, Nachrichten oder Erwähnungen. Dass soziale Netzwerke scheußliche Orte sein können, liegt daran, dass auch Reize, die negative Emotionen und Verhaltensweisen wie Wut, Abneigung, Rechthaberei und Neid bis hin zum Hass auslösen, die Nutzer bei der Stange halten. Der App ist es egal, warum die Nutzer klicken, scrollen und schreiben, Hauptsache, sie bleiben am Bildschirm.

Denn das ist es, was man im Internet eigentlich tut: Es reicht den Programmen nicht, die Nutzer als passive Konsumenten zu haben. Sie müssen auch Inhalte produzieren, die die ganze Maschinerie mit ihrem immer schneller werdenden Strom von Bildern, Posts und Nachrichten am Laufen halten. Wer etwas postet, kriegt Reaktionen, und die verlangen nach neuen Nachrichten und Posts. Die alte Binsenweisheit, man könne nicht nicht kommu­nizieren, bewahrheitet sich in den sozialen Medien endgültig, denn das Ende der Kommunikation ist dort schlicht nicht mehr vorgesehen. Kein Wunder, dass so viele beim Aufwachen gleich nach dem Handy greifen. Kein Wunder auch, dass so viele versuchen, die Arbeit, die sie jeden Tag beim Kuratieren ihrer Online-Präsenzen investieren, zu einem bezahlten Beruf zu machen. Überraschend ist weniger, dass es Influencer gibt, die für Geld die Inszenierung ihres Lebens im Internet betreiben. Überraschend ist vielmehr, dass die überwiegende Mehrheit der Nutzer diese nicht immer lustvolle, sondern oft stressige Arbeit jeden Tag völlig kostenlos verrichtet, und sich dabei, ganz neben­bei, auch immer mehr daran gewöhnt, ihr Privat­leben und ihre persönliche Identität an der Waren- und Werbungsästhetik auszurichten.

Seymour spekuliert über eine Politik der »Antiidentität«, die jede Arbeit, die die Nutzer auf die Produktion einer »zu engen, deprimie­renden, letztlich unterdrückerischen Vorstellung dessen, was eine Person sein kann« verwenden, verweigern würde: »Je länger wir zwanghaft uns selbst kuratieren, desto weniger leben wir. Vielleicht sollten wir versuchen, uns selbst öfter mal zu vergessen.« Es ist nicht leicht, der Logik dieser Industrie zu entrinnen, nicht durch eine Art von politischer Disziplin, und auch nicht durch alternatives Produktdesign. Zu evident sind die Vorteile, die diese Industrie bietet, zu menschlich die Bedürfnisse der Kommunikation, der ­Eitelkeit, der Ablenkung, der Neugierde und der Sehnsucht nach Öffentlichkeit, die diese Industrie trotz allem erfüllt. Als Alternative nennt Seymour die minimalistische Facebook-Variante »Ello«, die mit dem Slogan wirbt: »Du bist kein Produkt«. Die Plattform ist auf das Nötigste reduziert: der Gebrauchswert des Produkts Facebook, ohne manipulative Stimulierungen. »Man kann sich nur schwer vorstellen, dass jemand während eines Gesprächs oder auf ­einer Zugfahrt mehrmals sein Handy aus der Tasche zieht, um gereizt die ­Ello-App aufzurufen und seine Benachrichtigungen zu checken«, schreibt Seymour. Entsprechend wenig Erfolg hatte die App auch. So sehr die gegenwärtigen Ausgangsbeschränkungen die Menschen auch in die letztlich ziemlich freudlose Monotonie des Internets hineintreiben, eröffnet diese vielleicht auch eine Chance: Während alle Läden geschlossen, Reisen abgesagt, Dates verschoben und Clubs und Bars ruiniert worden sind, träumen Millionen Menschen auf der Welt vom Sommer und all den Dingen, die sie tun werden, wenn all das endlich vorbei ist und sie wieder selbstbestimmt ihr ­Leben führen können. Ganz so selbstbestimmt wird es dann natürlich nicht werden, denn die Rückkehr zur Normalität, über die gerade disku­tiert wird, meint vor allem eine Rückkehr in die den möglichst umfassenden alltäglichen Betrieb von Lohnarbeit und Konsum. Aber träumen darf man ja. Wovon, von welcher Art von Leben und Freizeit, träumen wohl die Menschen, die jetzt alle isoliert zu Hause sitzen müssen?