Hausbesetzer in Berlin testen neue Aktionsformen

Virtuelle Propaganda, reale Besetzung

Wohnraum besetzen in Zeiten der Coronakrise – wie das geht und wie nötig es ist, zeigte Ende März eine Initiative in Berlin.

»Wir werden besetzen, bis wir es nicht mehr müssen.« So beginnt die Erklärung einer Berliner Gruppe, die diese am 28. März veröffentlichte. Man solle es selbst in die Hand nehmen, leerstehenden Wohnraum nutzbar zu machen. Wie das gehen könnte, wollte die Initiative »Besetzen« im »Livestream coronagerechtes Besetzen« demonstrieren. So stand es auf der Ankündigungstafel zu Beginn der Übertragung.

Ihren Namen hat die Gruppe von ihrer Aktionsform. Obwohl diese öffentlich – im Livestream – gezeigt wurde, handelte es sich um sogenannte stille Besetzungen. »Uns geht es nicht um eine spektakuläre Aktion, sondern darum, dass hier auch tatsächlich jemand wohnt«, sagte ein Mitglied der Initiative dem Neuen Deutschland. Spektakulär sollte es lediglich durch den Livestream sein. Keine Transparente mit politischen Botschaften hingen aus den Fenstern; die Polizei sollte nicht wissen, welche Immobilien betroffen waren.

Es gehe um ein Wohnen, das nicht dem Profit einiger weniger dienen, sondern für alle und am besten kostenlos möglich sein solle, hieß es während der digitalen Führung durch die leerstehenden Wohnungen.

»Es ist leicht zu sagen: ›Stay the fuck home‹, wenn man ein Zuhause hat«, sagte eine andere Vertreterin der Gruppe dem Neuen Deutschland. »Viele haben aber keine Wohnung, leben auf der Straße, in Sammelunterkünften oder in gewalttätigen häuslichen Strukturen.« Ein anderer sagte der Taz: »Die Corona­krise zeigt nochmals viel deutlicher die Verletzlichkeit von Obdachlosen und Menschen in Lagern.« Die Betroffenen hätten »keine Privatsphäre, keine Hy­giene, keinen Schutz«. In Not- und Sammelunterkünften wie beispielsweise Flüchtlingsheimen drängten sich meist viele Menschen auf engem Raum. Das Infektionsrisiko sei entsprechend hoch.

Wie die Zeit berichtete, fürchten Hilfsorganisationen, dass Obdach- und Wohnungslose nun häufig von der ­Polizei kontrolliert und mit Bußgeldern belegt werden. Berichte aus Frankreich, wo strengere Ausgangsbeschränkungen als in Deutschland gelten, bestätigen die Befürchtungen. Zudem werde es wegen der Pandemie auch für die Hilfsorganisationen schwieriger, die Menschen zu versorgen.

»Allen ein Zuhause« war deshalb das Motto, unter dem die Beteiligten unter anderem auf Twitter für die Aktion warben. Eine Wohnung nach der anderen wurde geöffnet und im Livestream vorgeführt. In kleinen Gruppen waren die Besetzerinnen und Besetzer in mehreren Berliner Bezirken unterwegs. »Besetzungen: sechs – Cops: null«, lautete der Spielstand nach drei Stunden Ak­tivität am frühen Abend. Etwa 400 Zuschauer verfolgten die Aktion. Insgesamt zehn Immobilien hatten am Ende neue Bewohner, neun leerstehende Wohnungen sowie eine große Airbnb-Wohnung. »Durch den Mietendeckel halten Vermieterinnen und Vermieter Wohnungen zurück und Airbnb-Wohnungen sind jetzt nicht nur falsch, sondern werden gar nicht mehr genutzt«, zitierte die Taz Kim Schmitz, einen der Aktivisten. Es sei »zynisch, dass gleichzeitig Leute auf der Straße leben«.

Mittlerweile ist der Berliner Senat ­tätig geworden. Dem Portal RBB24 zufolge hat er am 1. April ein Hostel für Obdachlose geöffnet. 200 Plätze für Menschen, die sonst auf der Straße leben, soll es dort geben. Eine Etage mit 20 Plätzen sei für Frauen reserviert. Man wolle Rückzugsorte schaffen, hieß es. Die Unterkunft sei rund um die Uhr geöffnet. In einem früheren Bürogebäude in Pankow, in dem sich eine Kältehilfeeinrichtung befindet, sollen noch einmal 150 Plätze geschaffen werden, sollte das Hostel nicht ausreichen.

Diese Maßnahmen gehen den Besetzern nicht weit genug. »Während Wohnungen eindeutig den effektivsten Schutz vor dem Coronavirus bieten, hat die Stadt Berlin 350 Plätze in einer Jugendherberge und einer Kältehilfeeinrichtung geschaffen. Das als Solidarität zu verkaufen, ist zynisch.« Auf Einsicht wollten sie derweil nicht warten: »Wir fangen heute mit dem Umverteilen an.«

Knapp 5 000 Wohnungsräumungen wurden 2018 in Berlin beantragt. Zwar nimmt deren Zahl ab – 2014 waren es noch fast 7 000 –, die tatsächlich zugestellten Räumungstitel nehmen aber zu. Nicht nur große Konzerne und Privatvermieter, auch landeseigene Wohnungsunternehmen gehen juristisch gegen ihre Mieter vor. Räumungsklagen waren früher ein beliebtes Mittel, um Mietschulden einzutreiben. Inzwischen wollen viele Vermieter ihre Altmieter loswerden, um bei der Neuvermietung höhere Mieten einzustreichen. Das berichtete kürzlich das Berliner Abendblatt.

Die Gruppe »Besetzen« meldete einen Tag nach ihrem Besetzungsspektakel, die erste der zehn besetzten Wohnungen habe sie bereits dauerhaft einem Obdachlosen übergeben. Auch für die anderen neun Wohnungen stünden schon Obdachlose bereit. Die Initiative werde diese unterstützen, auch mit Anwälten und gegebenenfalls der Übernahme von Geldstrafen, falls die neuen Bewohner auffliegen sollten. Die Aktion fand im Rahmen des sogenannten Housing Action Day am 28. März statt. Viele der für diesen Tag geplante Ak­tionen wurden wegen der Coronakrise verschoben, beispielsweise eine große Demonstration gegen den »Mietenwahnsinn«. Allerdings demonstrierten etwa 200 Personen am Kottbusser Tor in Berlin-Kreuzberg für offene Grenzen und gegen Zwangsräumungen. Die ­Demonstrierenden wahrten ausreichenden Sicherheitsabstand und trugen Mund-Nasen-Masken, trotzdem löste die Polizei die Versammlung auf.