In Schweden folgte die Politik dem Konzept der sogenannten Herdenimmunität, mit bitteren Konsequenzen

Infektion im Altersheim

Nach den Vorgaben des Staatsepidemiologen Anders Tegnell verfolgte die schwedische Politik zunächst das Konzept der sogenannten Herdenimmunität.

Wenn die Titelseiten von Boulevardzeitungen ein Indikator für den Grad der Coronapanik in einem Land sind, war die Stimmung in Schweden bis Anfang voriger Woche noch entspannt. Schlagzeilen über die Begegnungen der All­svenskan, der ersten Fußballliga, dominierten nach den Spieltagen, dazu kamen Promi-Tratsch, Spekulationen über das Wetter im kommenden Sommer und leichte Häme über die Einschränkungen in anderen Ländern.

Den Vorgaben des Staatsepidemiologen Anders Tegnell folgend, verfolgte die Politik zunächst eine Strategie der sogenannten Herdenimmunität. Wer zu den Risikogruppen gehört, sollte zu Hause bleiben, während das gewohnte Leben für alle anderen weiterging. Bilder von vollen Kneipen, Konzerten, Fußballstadien weckten bei linken wie rechten Verschwörungstheoretikern europaweit den Verdacht, dass ihre eigenen Regierungen die Gefahr weit übertrieben und man besser dem schwedischen Beispiel folgen solle.

Vertreter dieser Ansicht konnten sich auf die zunächst äußerst geringen Infektions- und Totenzahlen berufen. Dabei stand Schweden mit seiner Strategie bereits kurz nach dem Ausbruch der Coronaepidemie in Europa weitgehend allein da. Das norwegische Gesundheitsministerium beispielsweise hatte am 12. März Reisebeschränkungen erlassen, zu denen unter anderem eine 14tägige obligatorische Quarantäne für jeden gehörte, der nach Norwegen einreisen wollte. Darunter fielen auch Norweger, die Einkaufstouren zu den überaus beliebten, auf ihre Konsumgewohnheiten spezialisierten riesigen Shopping Malls in den schwedischen Grenzgebieten unternehmen wollten.

Das schwedische Nordby Kjøpesenter vermeldete im vergangenen Jahr mit 4,6 Milliarden Schwedischen Kronen, umgerechnet etwa 420 Millionen Euro, einen Umsatzrekord; zum Vergleich: Sandvika Storsenter, das größte norwegische Einkaufszentrum, setzte umgerechnet knapp 293 Millionen Euro um. Seit dem Quarantäneerlass fehlen den schwedischen Shopping Malls die norwegischen Kunden, die sonst besonders wegen des in Schweden deutlich günstigeren Tabaks, der in Norwegen mit einer Zuckersteuer belegten Süßigkeiten sowie billigerer Nahrungsmittel anreisen. Dafür verzeichnen die Tabakläden im norwegischen Østfold nun ein Umsatzplus von mehr als 1 100 Prozent.

Auch der Aufenthalt in Sommerhäusern war in Norwegen untersagt worden, weil die Krankenhäuser in den beliebten Ferienorten lediglich auf den Bedarf der Lokalbevölkerung und nicht auf größere Mengen schwerkranker Touristen ausgelegt sind. In Schweden war das anders, auch eine Reisebeschränkung für das in Hospitälern und Seniorenheimen tätige Personal wie in Norwegen gab es dort nicht.

In der vergangenen Woche schockierte plötzlich eine Statistik die schwedische Öffentlichkeit: An vielen Orten hatte sich jeder dritte Bewohner von Alteneinrichtungen mit dem neuartigen Coronavirus infiziert. Dem Konzept der sogenannten Herdenimmunität würden gerade die Schwächsten zum Opfer fallen. Zudem stellte sich heraus, dass die gemeldeten Opferzahlen nicht akkurat waren, sondern in Wirklichkeit doppelt so viele Menschen wie ursprünglich angegeben an Covid-19 gestorben waren. Prompt dominierten auf den Websites und Titelseiten der Boulevardmedien die Liveticker und Covid-19-Schlagzeilen.

Der norwegische Gesundheitsminister Bent Høie meldete am Montag, die Coronakrise sei weitgehend unter Kontrolle – in Norwegen liegt die Ansteckungsrate mittlerweile bei 0,7, das heißt, ein Infizierter steckt im Durchschnitt weniger als eine Person an, so dass die Zahl der Erkrankten sinkt. In Schweden hingegen erwartet der mittlerweile umstrittene Staatsepidemiologe Anders Tegnell den Höhepunkt der Epidemie in drei Wochen.

Sein Vorgänger Johan Giesecke sagte in einem Interview mit dem staatlichen Rundfunksender SVT, vor allem die Krankenhäuser in der Region um Stockholm würden große Probleme bekommen. Insgesamt gibt es in Schweden ungefähr 520 Betten für Intensivpflege, davon waren vorige Woche bis auf 50 bereits alle belegt. Während in den USA Lazarettschiffe und Feldlazarette Hospitäler entlasten sollen, indem sie schwerkranke Patienten aufnehmen, die nicht an Covid-19 leiden, wurde in Schweden vorige Woche festgestellt, dass man nur insgesamt zwei mobile militärische Krankenhäuser besitzt. Eines der Feldlazarette mit Platz für 20 Intensivbetten wurde in Göteborg aufgebaut, ein weiteres, das 30 Kranke fassen kann, steht mittlerweile in Stockholm.

Die Notfallausrüstung war schon einmal besser: In der Nachkriegszeit hatte das schwedische Militär insgesamt 35 Feldlazarette mit jeweils 200 Betten, sechs Operationssälen und entsprechendem Personal sowie 15 kleinere Marinelazarette. Im Laufe der Jahre wurden die mobilen medizinischen Einrichtungen weltweit in Krisengebieten eingesetzt oder an andere Länder verschenkt, wie die Zeitung Expressen in der vergangenen Woche berichtete. Das war bereits 2002 aufgefallen, als der damalige Ministerpräsident Göran Persson bei einem Nato-Treffen in Prag vor dem Irak-Krieg gebeten worden war, Feldlazarette bereitzustellen. Zwei Jahre später, nach dem verheerenden Tsunami in Thailand, konnte Schweden der Bitte um mobile medizinische Notfallhilfe mangels Ausrüstung ebenfalls nicht nachkommen.

Warum die Militärführung Aufforderungen der schwedischen Regierung aus den Jahren 2008 und 2009, drei Feldlazarette anzuschaffen und die dazugehörigen Kompanien aufzustellen, nicht nachkam, ist unklar. Die beiden verbliebenen Einrichtungen sind nach Angaben von Magnus Blimak, Stabsarzt im Verteidigungsmedizinischen Zentrum Göteborg, auf einem Stand, der schlechter ist als der der 15 Marinelazarette in der Nachkriegszeit.
Zudem wurde die medizinische Versorgung im einst als Sozialstaat geltenden Schweden in den vergangenen Jahrzehnten immer weiter abgebaut. Es mangelt an Intensivpflegebetten und an Beatmungsgeräten. Emanuel ­Sjöström, Pfleger auf der Intensivsta­tion des großen Karolinska-Krankenhauses bei Stockholm, berichtete in ­einem Fernsehbeitrag, die vorhandenen Reservegeräte seien 18 Jahre alt, ebenso die Schutzausrüstungen.

Immerhin, die Situation hätte in Schweden noch krasser ausfallen können: Bereits am vorvergangenen Wochenende schloss der börsennotierte Betreiber der größten schwedischen Skigebiete, Skistar, nach Gesprächen mit dem Gesundheitsministerium alle seine Ressorts – allein über das Osterwochenende waren dort 80 000 einheimische Touristen erwartet worden. Volvo stellte in der vergangenen Woche die Produktion ein und schickte rund 20 000 Beschäftigte in Urlaub, frühestens ab dem 20. April soll dort wieder gearbeitet werden.